Wenn Sie ein paar letzte Minuten in Ihrem Haus hätten, was würden Sie mitnehmen? Geld, klar, Papiere, Verträge, Ausweise. Fotos vielleicht. Lothar Gareis hat sich die Frage oft gestellt. Musste sie sich stellen. Er sagt: „Ich weiß es nicht. Was will man alleine tragen?“ Gareis lebt in Nachterstedt, jenem 2100-Einwohner-Dorf in Sachsen-Anhalt, das über Nacht durch einen gewaltigen Erdrutsch bekannt wurde.
Auf einer Länge von mehreren Hundert Metern wurden damals ein Zweifamilienhaus, die Hälfte eines Doppelhauses, ein Stück Straße, eine Aussichtsplattform und eine ausrangierte Bergbau-Lokomotive hinab gerissen in den Concordiasee, eine riesige, geflutete Braunkohlegrube. Bilanz an jenem 18. Juli 2009: Drei Tote – verschluckt von zwei Millionen Kubikmetern Erde.
Noch immer gesperrt
Das Dorfviertel an der Abbruchkante, sechs Doppelhäuser, ein Einzelhaus und jenes Gebäude, das auseinandergefetzt wurde als sei es aus Pappe, ist noch immer gesperrt, 41 Bewohner wurden evakuiert. Sie werden wohl nie mehr zurückkehren können dorthin, wo sie bis zu jenem Julisamstag gelebt haben. „Die Häuser sind nicht mehr bewohnbar“, sagt Frank Esters, Chef des Landes-Bergamtes, einen Monat nach dem Unglück in einem Gespräch mit der „Mitteldeutschen Zeitung“. Er sei sowieso erstaunt, „dass die Böschung immer noch steht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis weitere Teile abgehen“.
Ein Gutachten über die Gründe sowie eine geologische Bewertung soll es nicht vor Ende 2009 geben. Die Schadensermittlung sei ebenfalls noch nicht abgeschlossen, teilt die verantwortliche Bergbaugesellschaft LMBV mit. Offenbar war sogar überlegt worden, die Häuser zu sprengen. Dieser Plan ist verworfen.
Nachdem die Bewohner zeitweise in Ferienwohnungen oder bei Bekannten untergekommen waren, „sind nun die renovierten Mietswohnungen im Ort beziehbar“, sagt Nachterstedts Bürgermeister Siegfried Hampe auf Anfrage dieser Zeitung. Die Kaltmiete trägt in allen Fällen die LMBV. Hampe berichtet, dass die Gemeinde ein neues Baugebiet für die Betroffenen ausweisen möchte: „Es gibt zwei mögliche Standorte. In einer ersten Befragung haben acht Familien ihr Interesse bekundet, ein, zwei Familien erwägen wegzuziehen.“ Der Bürgermeister sagt, dass der Zusammenhalt im Dorf groß sei: Es gibt Benefizauftritte des örtlichen Chores, einen Fußballauftritt des 1. FC Magdeburg und neulich haben sogar die Rocker vom Club „Black Raven“ aus Aschersleben 350 Euro gespendet. „Insgesamt sind bis jetzt rund 100 000 Euro auf dem Spendenkonto gelandet. Das ist phänomenal“, sagt Hampe.
Katastrophentourismus
Ärgerlicher sei da der Katastrophentourismus, der den Ort erfasst habe. Der Bürgermeister ist bestürzt darüber, „dass sogar die Absperrungen durchbrochen werden“. Vor allem an Wochenenden „kommen Leute aus dem ganzen Bundesgebiet“, so ein Polizeisprecher. Wer die Anweisungen ignoriert, muss mit Bußgeldern bis zu 1000 Euro rechnen. „Das ist kein Spiel, dort herrscht Lebensgefahr.“
Von Weitem ist das Haus von Lothar Gareis noch zu sehen. „Ganz normal sieht das aus“, sagt Bürgermeister Hampe, „aber keiner weiß, was im Boden los ist.“ Deshalb darf Gareis nicht mal mehr eine Minute zurück. Ein paar Kleidungsstücke, seine Papiere, das habe er kurz nach dem Unglück gerettet. Mehr ging nicht, berichtete der ehemalige Bergmann. Sein geliebtes Aquarium habe er sich nicht mal getraut anzusehen. Für die Fische blieb keine Zeit.