Sie sind die kleinsten Zellen im Blut, sie haben keinen Kern und sie verkleben pausenlos und unbemerkt irgendwo im Körper Löcher. Blutplättchen, Thrombozyten genannt, sind kleine Lebensretter, die permanent dafür sorgen, dass wir nicht verbluten, wenn wir uns in den Finger schneiden oder wieder mal mit dem Kopf gegen die Wand gerannt sind. In Sekundenschnelle haften die Plättchen an einer offenen Stelle im Blutgefäß an, verkleben miteinander und bilden einen Klumpen, den Thrombus. Sie sind also ein Segen – und können doch viel Schaden anrichten: Weil sich der Pfropfen aus Hunderten von Blutplättchen von der Gefäßwand lösen und dann Richtung Herz, Gehirn oder Lunge wandern kann. Wenn dort der Thrombus ein Gefäß verstopft . . .
Verstopfte Gefäße
„In den westlichen Gesellschaften sterben die meisten Menschen durch Blutplättchen“, sagt Professor Bernhard Nieswandt. Herzinfarkt, Schlaganfall, Thrombose, Lungenembolie – in Deutschland gehören sie zu den häufigsten Todesursachen. Und an all diesen Gefäßerkrankungen sind Thrombozyten beteiligt. Die Zellen, die billionenfach durch unsere Blutbahnen rasen, haben es dem Biologen Bernhard Nieswandt angetan. Etwas liebevoller gesagt: Sie sind seine wissenschaftliche Leidenschaft.
Dabei war's schierer Zufall, dass der 39-Jährige durch seine Promotion an der Uni Regensburg bei Blutplättchen landete. Jedenfalls blieb er an dem Thema so kleben, wie die kleinen Zellen aneinander, wenn der hochdynamische Gerinnungsprozess erst einmal begonnen hat.
Der Blutkreislauf ist ein ausgeklügeltes System, bei dem ein Gleichgewicht aus gerinnungsfördernden und -hemmenden Faktoren das Blut flüssig hält. Gewinnen die gerinnungsfördernden Faktoren die Oberhand, verstopfen die Gefäße allzu leicht durch Gerinnsel. Wird die Bildung von Thromben blockiert, steigt die Blutungsneigung. Vor drei Jahren haben Bernhard Nieswandt und sein Kollege Thomas Renné diese bisher gültige Vorstellung von der Gerinnungslehre ins Wanken gebracht. Sie fanden heraus, dass Mäuse, bei denen ein bestimmter Gerinnungsfaktor (Faktor XII) „ausgeschaltet“ wurde, zwar weit weniger Blutgerinnsel bekommen. Dennoch bluten die Faktor-XII-losen Tiere nach einer Verletzung nicht stärker oder länger als ihre gesunden Artgenossen.
Faktoren der Blutstillung
Die Mechanismen, die die Pfropfen verursachen, scheinen für das Blutstillen nicht entscheidend zu sein. Wenn also beim Menschen ein Medikament den Faktor XII blockieren könnte? Dann hätte man eine wirksame Therapie gegen Schlaganfall und Herzinfarkt entwickelt, sagt Nieswandt. Und anders als bei den bekannten Gerinnungshemmern Marcumar oder Heparin hätten die Patienten dann kein erhöhtes Blutungsrisiko.
Wie rasend schnell ein Blutpfropf wächst, können die Forscher heute im Modell beobachten. Sie lassen Blut durch Kollagen-Röhrchen strömen – und filmen, was passiert. Wieso die Blutplättchen nicht einfach die Löcher in der Wand flächig verkleben, sondern sich binnen Sekunden zu dicken Gerinnseln verklumpen? Die Wissenschaftler haben noch keine Erklärung dafür. Aber dass diese für den modernen Menschen so riskanten Blutpfropfen kein Zufallsprodukt der Evolution sind, sondern ihren Sinn haben, davon ist Nieswandt überzeugt.
Mit seiner Arbeitsgruppe untersucht er am Rudolf-Virchow-Zentrum seit einiger Zeit besonders aufmerksam Protein-Rezeptoren auf und in den scheibenförmigen Thrombozyten. Sind die Oberflächen-Rezeptoren „angeknipst“, vernetzen sie die Plättchen über lange elastische Fasern miteinander und kleben sie an die kaputte Gefäßwand. „Gleichzeitig senden sie Signale aus, dass noch mehr Blutplättchen herbeifließen“, sagt Nieswandt. Und die kleinen Plättchen können noch mehr: Sie stimulieren das Immunsystem und regen die Gefäßwand an, sich zu regenerieren – eine Kettenreaktion.
Mit Kollegen vom Münchner Max-Planck-Institut für Biochemie hat der Würzburger Biologe jetzt herausgefunden, wer die Rezeptoren in Aktion setzt: zwei bislang unbekannte Proteine namens Talin-1 und Kindlin-3. Nieswandt untersuchte dafür Mäuse, bei denen die Bildung von Talin-1 unterdrückt worden war. Ergebnis: In den Tieren konnten sich keine Blutpfropfen bilden, keine Blutungen stillen lassen. Auch bei Mäusen, denen das Kindlin-3 fehlt, verklumpt das Blut im verletzten Gefäß nicht – weil die nötigen Rezeptor-Proteine auf den Plättchen nicht aktiviert werden.
Umgekehrt wird der Mechanismus interessant: Er könnte Patienten schützen, die zu Thrombosen neigen oder ein hohes Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko haben. Bislang halten Ärzte Blut vor allem durch Aspirin flüssig – mit begrenztem Effekt. Das Kindlin-3 ist für die Forscher jetzt ein spannender Angriffspunkt: Es kommt nur in Blutzellen vor. „Nebenwirkungen in anderen Geweben kann man also ausschließen.“
Schlaganfall vorbeugen?
Den Mechanismus der Gerinnung mit einem Medikament gezielt steuern, die Aktivierung der Blutplättchen fein regulieren zu können, um die Blutstillung nicht völlig zu blockieren, aber eben auch keine Gerinnsel entstehen zu lassen – das ist der Traum von Bernhard Nieswandt und seinen Kollegen. Immer intensiver arbeiten die Grundlagenforscher mit den Neurologen um Professor Guido Stoll aus der Uniklinik zusammen. „Für Gehirnschlag gibt es keine Therapie bislang“, sagt Nieswandt – und hofft, dass sich das ändert, irgendwann.
Ob er sich sein ganzes Forscherleben mit Blutplättchen beschäftigen wird? Für den 39-Jährigen keine Frage. Die kernlosen Zellen seien ja ein „verhältnismäßig einfaches“ System. „Aber wenn ich in Ruhestand gehe, wird man über Blutplättchen immer noch keine fünf Prozent wissen.“