Mein privater wie beruflicher Terminkalender enthält seit einiger Zeit immer wieder die Eintragung: „Termin mit mir selber“. Das sind Auszeiten in der Familie und Zeiten am Wochenende, die ganz alleine mir gehören. Und das sind die Pausen im Büroalltag, die ich bewusster nehme als früher und in denen ich für ein paar Minuten wirklich abschalte.
„Tabu-Zeiten“ nennen das Pater Anselm Grün und Managementtrainer Friedrich Assländer bei einem Kurs im Haus Benedikt in Würzburg. Solche Zeiten sind wichtig, um zu leben, nicht gelebt zu werden. Dazu gehören auch Einsichten in das Wesen der Zeit, sowie die Fähigkeiten Grenzen zu setzen und Entscheidungen zu treffen. Das Ziel (und der Titel des Kurses): Zeit für das Wesentliche.
„Es ist wichtig, dass ich Grenzen setze und Grenzen beachte“, sagt Friedrich Assländer. „Damit verletze ich niemanden. Ich muss den Mut haben, meine Grenze anzunehmen und den Mut, sie dem Anderen zuzumuten. Dafür brauche ich mich nicht zu entschuldigen.“
Anselm Grün rät, die Frage nach dem eigenen Maß zu stellen: Welche Erwartungen will ich erfüllen? Kann ich nach einer erfüllten Aufgabe aufatmen oder kommt sofort ein „auch noch“? „Ich muss ,Nein' sagen können“, betont der Benediktiner. Nein-Sagen stärkt das Selbstwertgefühl und schafft Klarheit gegen Andere. Gegen Andere? Das ist nicht als Gegnerschaft gemeint, es kommt darauf an „gut Nein zu sagen“. Man muss deutlich machen, dass sich das nicht gegen Andere richtet, sondern dem eigenen Schutz dient. Und man soll rechtzeitig nein sagen: „Wenn ich meine eigene Stimme zu lange überhört habe, dann wird mein Nein aggressiv.“
Zeit für das Wesentliche. Zeit läuft einem vor allem erst einmal davon. Diese Erfahrung machen viele Menschen, jeden Tag. Hetze und zu spät kommen, das Gefühl, dass immer mehr zu erledigen ist als man Zeit hat, all das begleitet uns. Und wer wie der Zeitforscher Karlheinz Geißler nach Entschleunigung ruft, der spricht vielen Menschen aus der Seele.
Zeit gibt aber auch Raum, um zu leben. Sie gibt Freiraum und Freiheit. In der Zeit kann sich etwas erstrecken, kann man sich strecken und ausdehnen. Man kann sich Zeit nehmen. Eben Zeit für das Wesentliche.
Offenbar gibt es zwei Arten von Zeit. Schon die griechischen Denker haben das vor mehr als 2000 Jahren gewusst und sprachen von Chronos und Kairos.
Chronos, so nannten sie die Zeit, die uns auffrisst. Die gleichmäßig ablaufende Zeit, die wir seit dem Mittelalter mit Uhren immer genauer messen. Es ist die Zeit des Kalenders und der Mechanik, der Planung, der Wissenschaft und Technik und der Quantität. Die Zeit des Denkens.
Kairos, das ist der Augenblick, die Zeit unserer Existenz. Kairos zeigt sich in unserer Sprache: Wenn die Zeit reif ist, sagen wir. Und: Das Glück am Schopf packen. Kairos ist das Erleben, das Fühlen.
„Im Augenblick“, sagt Pater Anselm Grün, „fallen Zeit und Ewigkeit zusammen.“ Der Ordensgründer der Benediktiner, der Heilige Benedikt, hat es so formuliert: „In einem Sonnenstrahl die ganze Welt sehen.“
Die Mönche nehmen sich Zeit für die Kontemplation. Früher hat man das „kontemplative Leben“ in den Klöstern dem „aktiven Leben“ draußen regelrecht gegenübergestellt. Kontemplation war damals in der Regel Gebet, aber auch Besinnung und christliche Meditation: leer werden vom Alltag, frei werden für Gott. „Klarheit in der Tiefe der Seele schaffen“ nennt es Anselm Grün. Übereinstimmung mit sich selbst erfahren.
In der Kontemplation steht die Zeit still.
Zeit und Ewigkeit fallen zusammen.
Ewigkeit ist nicht die lange Dauer.
Ewigkeit ist die Aufhebung der Zeit.
Ewigkeit ist erfüllte Zeit.
Im Alltag ist es oft genau andersherum: Wir setzen uns unter Druck, tun dies und denken schon an jenes oder hängen dem gerade Erlebten nach. Die Zukunft macht Angst und dem Verpassten trauern wir nach.
„Vergangenheit und Zukunft in den Gedanken schaden“, sagt Anselm Grün. „Was hindert uns eigentlich, im Augenblick zu sein, Achtsamkeit zu leben?“
Dazu gehört Loslassen: „Lass dich nie ein Ding gereuen, das vorbei ist.“ Er warnt vor einer Haltung, die sich zu viel mit dem „hätte ich doch besser“ aufhält. Das schafft Kontrolleure und Perfektionisten – Leute, die sich immer rechtfertigen zu müssen meinen und die unter Schuldgefühlen leiden.
Aber auch die Zukunft gilt es loszulassen: Visionen sind notwendig, aber im Augenblick des Tuns muss man sich freimachen vom Druck der Erwartungen.
„Wenn ich im Augenblick lebe, dann kann auch meine Arbeit fließen. Ich brauche keine Energie für Sekundäres: Was denken die Anderen von mir? Bin ich gut genug?“, erklärt Anselm Grün. Es ist ein Fließen ohne Hektik, ohne Ego, ohne Andere. Wer im Augenblick lebt, der kann sich einlassen auf die Dinge, die vor ihm liegen, auf seine Arbeit. Er kann sich freimachen vom Bewertungsdruck, der typisch ist für die Zeiterfahrung des Chronos: Messen und Vergleichen. Im Kairos, im Augenblick, kann man frei sein.
Dazu gehört, richtig anzufangen und richtig aufzuhören. Der Pater rät, einfach anzufangen, nicht ständig darüber nachzudenken, wie man richtig anfängt. Und auch beim Aufhören klare Grenzen zu setzen: Was ist unerledigt geblieben. Warum versetzt einen das in Unruhe?
Wenn man so lebt, im Alltag und dennoch in Kontemplation, dann verliert die Zeit ihren Schrecken. Dann stellt sich sogar Muße ein, die alles andere ist als Nichtstun oder Faulenzen, sondern eben im-Augenblick-sein.
Das Leben verlangt Entscheidungen, auch das Leben im Augenblick. Viele Menschen tun sich schwer mit Entscheidungen. Sie wollen alles perfekt machen, grübeln über richtig oder falsch und treffen womöglich gar keine Entscheidung. Das jedoch ist am Schlimmsten.
Anselm Grün rät, sich zu entscheiden und dann das Vertrauen zu haben, dass Gott seinen Segen dazu gibt. Es gibt nicht die absolut richtige Entscheidung, ist er überzeugt. „Man muss spüren nach dem Für und Wider und dann Mut haben“, rät er. Die Gründe und Gegengründe mit dem Verstand erwägen und dann das Herz befragen: „Welche Gefühle habe ich hier oder dort?“ Da, wo sich mehr Frieden, Lebendigkeit, Freude einstellt, sollte die Entscheidung hingehen. „Diesem Weg muss man dann vertrauen, auch wenn Schwierigkeiten aufkommen.“ Das, was nicht mehr gelebt werden kann, das darf betrauert werden. Doch dann soll man sich ganz auf das Neue einlassen. „Es ist wichtig, dem eigenen Gefühl zu trauen. Es ist nicht so wichtig, was andere darüber denken.“
Wer Grenzen setzt, in Achtsamkeit lebt und den Mut zu Entscheidungen hat, der lebt, statt gelebt zu werden. Aber hat er Zeit für das Wesentliche? Was ist überhaupt das Wesentliche? Ist es für alle Menschen gleich oder hat jeder in seinem Leben etwas, das für ihn wesentlich ist?
Pater Anselm Grün und Friedrich Assländer beantworten das klar in letzterem Sinne: „Das Wesentliche wirst du dann entdecken, wenn du aufhörst, dich vom Unwesentlichen ablenken zu lassen.“
Das Wesentliche ist das Selbst-Sein, die eigene Einmaligkeit. Nicht als Größenwahn verstanden, sondern als Leben, das Grenzen setzt und achtet, das Entscheidungen trifft und das achtsam und bei sich ist. Das Wesentliche für das eigene Leben kann man nicht suchen, man muss sich von ihm finden lassen.