Wir machen hier alle weiter.“ Sagt Thorsten Torchalla, 47 Jahre alt, Bergmann seit 1983, Markennummer 1188. „Dat is trotz allem so ne innere Verpflichtung im Berchbau.“ Weitermachen bis zum Schluss. Einen schmutzigen Job zu einem sauberen Ende bringen.
Zeche Auguste Victoria, Kreis Recklinghausen, am nördlichen Ende des Ruhrgebiets. Wo Kohle gefördert wird seit 1899. Es ist von einst mehr als 150 das vorletzte noch betriebene Bergwerk im Ruhrgebiet. Beschlossener Schließungstermin: 31. Dezember 2015. Danach gibt es nur noch Prosper-Haniel in Bottrop. Bis 31. Dezember 2018. Dann ist Schicht im Schacht. Endgültig. Der Steinkohlebergbau nur noch ein Stück Industriegeschichte. Zu betrachten im Deutschen Bergbau-Museum in Bochum.
Neben Torchalla sitzt angestrengt lächelnd Alfred Dodot, 57, im Besprechungsraum. Stellvertretender Leiter der Verwaltung, im Bergbau seit 1977, Markennummer 4018. Er sagt: „Sie haben sozusagen das Privileg, den deutschen Steinkohlebergbau noch mal lebend zu sehen.“ Zur Bestätigung blickt er durch das Fenster hinüber zum laufenden Förderturm. Dem Herz jeder Zeche. Der nach oben bringt, was unten in den Kohleflözen der Natur abgerungen wird. Archaisch. Männer gegen den Berg. Kumpel. In einem Mikrokosmos aus Dreck, Lärm und Hitze. Gut tausend Meter tief in der Erde. In vier Schichten. Beginnend um 7, 11, 14 und 20 Uhr. So war es hier all die Zeit. So wird es bald nicht mehr sein.
Noch wird gearbeitet auf Auguste Victoria. 2600 Menschen. Über wie unter Tage. Thorsten Torchalla ist unter. Ein großer Mann, Sechs-Tage-Bart, breites Kreuz unter kariertem Hemd. Der mit dem markanten Dialekt des Ruhrpotts spricht samt grammatikalischer Eigenwilligkeiten. „Im Jahr 2009 bin ich nach hier gekommen.“ Bis er hier war, hatte Torchalla eine Reise hinter sich wie viele seiner Kollegen: immer dem nächsten Bergwerk nach.
1983: Beginn als Lehrling. In Bergkamen. Zeche „Neu-Monopol“. Drei Jahre lang. Schließung. 1986 übernommen vom Bergwerk „Haus Aden“, Bergkamen. Ab da: „Viel gebohrt und viel gesprengt.“ Ab 1999 Bergwerk „Ost“, Hamm. Schließung. Seit 2009 nun hier. 72 Kilometer Autofahrt entfernt von Torchallas umgebautem Bauernhaus in einem Dorf bei Unna.
Lange wird er die Strecke wahrscheinlich nicht mehr fahren müssen. Denn wie viele der Kumpel nach der Schließung noch von Pros- per-Haniel in Bottrop übernommen werden, für die allerletzte Etappe, ist noch nicht klar. Und Torchalla wird zu denen voraussichtlich nicht mehr gehören, „weil ich ja schon Asbach bin“. In zwei Jahren 49. Dem Alter, ab dem man in Vorruhestand gehen kann, wenn man mindestens 20 Jahre unter Tage war. Oder eben gehen muss. Wenn Zechen geschlossen werden.
„Is aber vielleicht auch ganz gut so“, sagt Torchalla. Es sei die letzten Jahrzehnte ein bisschen so gewesen, wie wenn Menschen alt werden und um sie herum langsam die Freunde und Weggefährten weniger. „Man ist im Bergbau ein immer selteneres Exemplar geworden.“ Was nicht so ein schönes Gefühl sei. Übrig geblieben irgendwie. Es gehe ja leider immer alles irgendwann mal zu Ende. Jetzt eben der Bergbau.
Es ist gar nicht die Energiewende, die den Untergang besiegelt hat. Die Förderung von Braunkohle geht ja weiter, muss weitergehen, anders ist der Atomausstieg nicht zu schultern. Vielmehr war die Steinkohle zuletzt eine reine Subventionssache. Der Abbau rechnet sich schon lange nicht mehr. Nicht in Deutschland. Auslandskohle ist viel billiger.
Früher, ja früher . . .
1958 gibt es 600 000 Bergarbeiter im Ruhrpott. Wirtschaftswunder. Die Kohleproduktion ist auf ihrem Höhepunkt. Dicker Ruß hängt über den Städten zwischen Rhein und Ruhr. Zechensiedlungen werden gebaut für die Kumpels. Kleine Häuschen, baugleich, eins neben dem anderen. Dahinter kleine Gärtchen. Für die Familie. Davor eine Sitzbank. Für das Bier über Tage mit den Kollegen.
Längst ist der Strukturwandel über das größte Ballungsgebiet Europas hinweggefegt. Die meisten Zechensiedlungen sind längst nicht mehr von Bergleuten bewohnt. Bänke davor gibt es keine mehr. Oder sie sind verwaist.
„Nix mehr mit Kohlenpott“, sagt Alfred Dodot, ein drahtiger Mann von mittlerer Statur, kurzes graues Haar, der Sohn nach drei Generationen nicht mehr im Bergbau tätig. Wo es früher jede Woche Treffen der Bergmannsvereine gegeben hat, gebe es heute nur noch alle vier Monate Ehemaligentreffen. Die ein wenig oder vielleicht sogar vor allem ein Klammern an alte Zeiten seien. Er wolle den Beruf, jetzt, wo es dem Ende zu geht, nicht verklären, sagt Alfred Dodot, „aber es ist schon was Besonderes, da unten zu arbeiten“. Wo die Bedingungen so schwer seien, dass große Harmonie herrschen müsse untereinander. „Wenn Sie im Büro einen Fehler machen, ist das natürlich auch scheiße“, sagt Dodot. „Aber da unten – da unten kann ein Fehler über Leben oder Tod entscheiden.“
Der Begriff Kumpel komme ja nicht von ungefähr. Thorsten Torchalla sagt: „Alle packen hier ehrlich mit an. Da bleibt keiner über.“ Auch wenn es natürlich harte Arbeit sei. Und entsprechend rau der Ton. „Bei aller Kameradschaft ist das hier kein Streichelzoo.“ Deswegen habe er es meist so erlebt, dass jemand, der neu in den Bergbau kam, entweder schnell wieder ging oder blieb. Und dann für lange. Torchalla blieb. Werktag um Werktag im Berg. Auch an diesem Tag. Um 14 Uhr beginnt seine Schicht. Unterwegs dorthin grüßt Torchalla jeden, der ihm entgegenkommt mit „Auf“. Bekommt ein „Auf“ zurück. Das „Glück“ davor denkt man sich. Vorbei an der Anzeige mit der tagesaktuellen Förderleistung, 10 900 Tonnen, vorbei an der Kantine, Tagesessen Chili con Carne, 3,20 Euro, geht es durch ein Drehkreuz hinein in einen großen, gekachelten Saal. Die Kaue. Wo von der Decke herab metallene Körbe hängen, die man mit langen Ketten zu sich herunterzieht, um an die Sachen für die Schicht zu gelangen. Die Schuhe mit Stahlkappen. Schienbeinschoner, Schutzbrille, Handschuhe, Halstuch, Helm. Jacke, Hose, weites Hemd, alles aus festem, grauem Stoff. Feuerfeste Unterwäsche, dicke Socken. Eine Ausrüstung, mit der man schnell ins Schwitzen gerät, tief unten im Berg, wo meist um die 30 Grad herrschen.
Vor der Umkleide laufen nur mit einem Handtuch in der Hand Kollegen in Richtung Dusche, von der letzten Schicht, mit schwarzen Gesichtern und rußbedeckten Körpern. Ein müdes „Auf“. In der Dusche stehen sie schweigend zusammen und schrubben einander den Rücken. Torchalla legt den breiten Gürtel um, an den er später die acht Kilo schwere Batterie für die Grubenlampe hängen wird und den kaum leichteren Sauerstoff-Filter für den Notfall. Dann geht er hinüber durch einen langen Gang zum Aufzugsschacht. Wartet mit 20 Kollegen der Nachmittagsschicht auf den Aufzug, der sie hinunterbringt.
Unterhält sich mit einem Kollegen, mit dem er seit Jahrzehnten runterfährt. Weil sie immer in dieselben Zechen verlegt wurden. „Ich hab seit ner Weile so übel Meniskusschmerzen“, sagt Torchalla. „Mensch, hör ma auf zu jammern“, sagt der Kollege, „kannst doch froh sein, dat du hier noch stehst. Pferde werden dafür erschossen.“ Torchalla zeigt auf den Kollegen: „Mann, Mann. Bleibst von allen schlimmen Krankheiten verschont und dann kriechste den hier als Kollegen.“
Am späten Abend steht Torchalla umgezogen auf dem Parkplatz vor der Zeche. „Is natürlich auch immer schön, wieder oben zu sein.“ Und eigentlich wäre es ja auch schön, wenn man die harte Arbeit nicht mehr machen müsste. Und dafür noch Geld bekomme. So wie er es oft hört von denen, die nichts zu tun haben mit dem Bergbau. Mensch, mit Ende vierzig auf der faulen Haut liegen und dafür noch Kohle kriegen. Das sei doch ein Traum.
„Aber so einfach is dat nich“, sagt Torchalla. In all den Jahren habe er zwangsläufig viele Kollegen gehabt, die bei jeder Zechenschließung ausschieden, wenn sie 49 oder älter waren. Die sich dann zu Hause in die Arbeit gestürzt haben. Das Zimmer vom Sohn gestrichen. Und das vom zweiten Sohn. Und dann noch das Schlafzimmer. Und dann noch das Wohnzimmer. Bis es keine Zimmer mehr gab zum Streichen. Aber eben auch keine Kollegen mehr. Keine Kumpel. Nicht mehr diesen Zusammenhalt. Und keine richtige Aufgabe. Dann seien viele ins Bergfreie gefallen. Wie man das so sagt im Bergbau. Wenn einer keinen Halt mehr findet nach dem Ausscheiden.
Torchalla sagt: „Ich hab ja viel vor.“ Letztes Jahr hat er sich ein Motorrad gekauft. In Urlaub will er jetzt öfter gehen und noch mal was am Haus machen. Jetzt, wo die Kinder ausgezogen sind. Und dann noch die ehrenamtliche Arbeit bei der Freiwilligen Feuerwehr, „dat is ne tolle Sache mit den Kleinen“.
Trotzdem. Wenn es dann Silvester 2015 wird, das wird nicht so schön. „Darf ich gar nich dran denken“, sagt er leise und verabschiedet sich. Fährt die 72 Kilometer zurück Richtung Unna in das Haus, das er nun allein bewohnt. Seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben.
Steinkohle in Deutschland
Bedeutung: 2014 wurden nur noch 14 Prozent der in Deutschland verbrauchten Steinkohle im Land abgebaut. Der Rest kam aus dem Ausland. Zuletzt deckte Steinkohle 12,6 Prozent des deutschen Energieverbrauchs ab. Zechen: Ende 2015 schließt der Kohlekonzern RAG die Zeche Auguste Victoria. Dann gibt es bundesweit nur noch zwei Steinkohlezechen – in Bottrop (Ruhrgebiet) und in Ibbenbüren am Rand des Münsterlandes. Ende 2015 soll die Branche noch gut 8000 Stellen haben. Ausstieg: 2007 schrieb der Bundestag einen Fahrplan für den Ausstieg aus der Steinkohle bis Ende 2018 fest. Darin sind für 2009 bis 2018 weitere Subventionen in Höhe von 13,9 Milliarden Euro vorgesehen. Zusätzlich zahlt das Land Nordrhein-Westfalen 3,9 Milliarden Euro. Text: dpa/AZ