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„Palästinenser immer noch staatenlos“

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„Palästinenser immer noch staatenlos“

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    Das erste Mal seit 1991 hat vor kurzem die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Bau einer neuen Siedlung erlaubt. Mit dieser Entscheidung wird Netanjahu von der PLO vorgeworfen, seine „systematische Politik des Kolonialismus, der Apartheid und der ethnischen Säuberung fortzusetzen und die Menschenrechte sowie die Würde der Palästinenser zu verletzen. Die Strategie Netanjahus in der Auseinandersetzung mit den Palästinensern, mögliche Lösungsansätze und Schlussfolgerungen erläutert Dr. Dahlia Scheindlin, Lehrbeauftragte an der Universität von Tel Aviv, im Gespräch mit dieser Redaktion.

    Frage: Frau Scheindlin, worauf beruht Benjamin Netanjahus politischer Erfolg?

    Dahlia Scheindlin: Die Tatsache, dass Netanjahu wiederholt Wahlen gewinnen und Koalitionen bilden konnte, zeigt, dass sich die israelische Gesellschaft in ihren grundlegenden Überzeugungen mehrheitlich in ihm wiederfindet. Dies nicht zuletzt deshalb, weil er diese Überzeugungen durch seine zwanzigjährige Präsenz auf der nationalen Bühne selbst mit hervorgebracht hat.

    Zwar begegnet man seiner Haltung auch mit Skepsis, doch viele teilen seine Ansicht, dass Israel in einen Kampf der Juden gegen eine ihnen feindlich gesinnte Welt verstrickt sei, in der lebensbejahende Zionisten radikalislamischen, todeswilligen Fanatikern gegenüberstünden und zugleich einen wichtigen Krieg gegen die subversiven Feinde im Innern führen müssten.

    Warum ist Netanjahu gegen eine Konfliktlösung mit den Palästinensern?

    Scheindlin: Er schreibt seine Politik des Konfliktmanagements deshalb fort, weil es politisch hilfreich ist. Seinen Koalitionen gehören meistens Parteien an, die noch weiter rechts stehen als er selbst und sich offen gegen einen palästinensischen Staat aussprechen. Dazu kommen Parteien der Mitte, die einen solchen Staat eher theoretisch als praktisch befürworten. Entsprechend ist der diplomatische Prozess festgefahren beziehungsweise gescheitert. Nichts hat sich in der Palästinapolitik geändert, die Gewaltspirale dreht sich ungebremst weiter und die Palästinenser sind immer noch staatenlos.

    Welche Folgen hat die tatsächliche Bedeutung des Status quo für die Israelis?

    Scheindlin: Zum einen wird die Zweistaatenlösung zunehmend unwahrscheinlicher, da die israelische Politik die Trennung zwischen Gaza und der Westbank vertieft und darüber hinaus die Gebietseinheit der palästinensischen Ländereien im Westjordanland weiter zerstört. Die palästinensische Führung ist derweil zwischen Hamas und Fatah gespalten, wobei beide Seiten massive Führungsschwächen und Legitimationsverluste aufweisen. Der Verfall der palästinensischen Führung wiederum bedeutet, dass die Chancen für Verhandlungen zunehmend schwinden. Viele, die ein Friedensabkommen für dringend nötig halten, befürchten mittlerweile, dass es eine Vereinbarung über einen auf der Existenz von zwei Staaten bestehenden Status letztlich nicht mehr geben wird. Sie warnen vor einer bevorstehenden De-facto-Annexion der Westbank durch Israel.

    Gibt es weitere Lösungsansätze?

    Scheindlin: Andere diskutieren einen neuen politischen Rahmen, beispielsweise ein föderales System, in dem eine israelische und eine palästinensische Gebietseinheit ein loses politisches Bündnis bilden würden. Beide würden – wo erforderlich – bestimmte Befugnisse teilen, beispielsweise bei der Koordination der Sicherheit oder der Verwaltung von natürlichen Ressourcen, und im Vergleich zu heute mehr Mobilität über die Grenzen zulassen. In einem solchen Modell könnten sich die jeweiligen nationalen Gruppen auch im Gebiet der jeweils anderen Gruppe niederlassen, das Wahlrecht jedoch im Land ihrer Herkunft ausüben. Die Befürworter einer solchen innovativen diplomatischen Lösung sind jedoch eine Minderheit.

    Hat Europa auf die Politik Netanjahus reagiert?

    Scheindlin: Die Siedlungen und die Zunahme der Gewalt empören nach wie vor Europa.

    Europa protestiert mit ganz konkreten Maßnahmen gegen die Siedlungspolitik, beispielsweise mit den 2013 verabschiedeten EU-Leitlinien, denen zufolge sich Organisationen, die in den jüdischen Siedlungen tätig sind, nicht für eine Förderung durch die EU bewerben dürfen, oder der Kennzeichnungsrichtlinie für Produkte aus den israelischen Siedlungen in der Westbank aus dem Jahr 2015. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich offen gegen den Siedlungsneubau aus und die Bundesrepublik stimmte 2012 in der UN nicht gegen den Antrag, den Palästinensern einen „Bebachterstatus“ bei den Vereinten Nationen zu gewähren, sondern enthielt sich lediglich der Stimme. In Europa sind auch die Menschen nicht länger damit einverstanden, dass ihre Regierungen einen Bündnispartner hätscheln, der behauptet demokratisch zu sein, und gleichzeitig seine Besatzungspolitik fortführt.

    Wie versucht Netanjahu diese Spannungen zu kompensieren?

    Scheindlin: Vielleicht in Erwartung schwindender Unterstützung – oder um seine Unabhängigkeit von den westlichen Bündnispartnern zu demonstrieren – pflegt Netanjahu verstärkt die Beziehungen zu anderen Regionen. Im Frühjahr 2016 machte er sich auf eine Afrikareise, um Kontakte zu vertiefen und bestehende Verträge und Märkte auszubauen. Er bemüht sich um die sensible Beziehung zum ägyptischen Staatschef al-Sisi und richtet seinen Blick auf Zukunftsmärkte in Lateinamerika. In jüngerer Zeit knüpfte Israel auch engere Kontakte zu Aserbaidschan und Russland. Ein Beobachter bezeichnete insbesondere die Verbindung zu Russland als „Sicherheit“ gegenüber weiteren Druck seitens der EU, was vermutlich auch auf die anderen Regionen zutrifft.

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