Mit einem neuen Anlauf vor Gericht und neuen Angeklagten will die russische Justiz den Mord an der 2006 in Moskau erschossenen kremlkritischen Reporterin Anna Politkowskaja aufklären. Vier Jahre liegt der letzte Prozess gegen die Verdächtigen zurück, die aus Mangel an Beweisen 2009 freigesprochen worden waren. Bei dem am Mittwoch begonnenen Verfahren in dem international beachteten Mordfall sind fünf Verdächtige vor dem Stadtgericht Moskau angeklagt.
Vor Gericht stehen erstmals der mutmaßliche Todesschütze Rustam Machmudow (40) und sein Onkel, der Geschäftsmann Lom-Ali Gaitukajew (55), der das Verbrechen organisiert haben soll. Beide stammen aus dem früheren russischen Kriegsgebiet Tschetschenien. Von dort hatte Politkowskaja für die Zeitung „Nowaja Gaseta“ über Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverstöße berichtet.
Alle Beschuldigten beteuern aber ihre Unschuld. Und die Anklage präsentiert weiter keinen Auftraggeber. Weil der Drahtzieher unbekannt sei, könne auch die Bluttat an der renommierten Reporterin nicht als aufgeklärt betrachtet werden, betont der russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin. Hoffnungen, dass die Ermittler jemals den Auftraggeber nennen, haben auch die Kinder Politkowskajas – Ilja und Vera – kaum noch. Als Vertreter der Nebenklage machten sie ihrem Ärger über die Umstände des neuen Prozesses Luft. So seien sie und ihre in die Ferien verreisten Anwälte nicht an der Auswahl der zwölf Geschworenen beteiligt gewesen. Sie warfen dem Gericht außerdem vor, die Rückkehr der Anwälte nach Moskau für den Prozessbeginn nicht abgewartet zu haben – im Raum stand demnach der Montag (29. Juli) als Starttermin.
„Wir haben praktisch sieben Jahre gewartet, bis die Mörder auf der Anklagebank sitzen, und dieser Staat kann nicht einmal ein paar Tage warten“, schrieben die Geschwister. Der Chefredakteur der Zeitung „Nowaja Gaseta“, Dmitri Muratow, sprach im Radiosender Echo Moskwy von einem „Justiz-Skandal“.
Das Moskauer Stadtgericht hatte am Dienstag erst im dritten Anlauf die Geschworenen bestimmt. Vorher waren die Juroren jeweils mit verschiedenen Ausreden von dem extrem heiklen Verfahren abgesprungen – wohl auch aus Angst vor Verfolgung durch Tschetschenen.
Vor Gericht stehen nun auch ein früherer Polizist, der die Bande kontrolliert haben soll, sowie als Komplizen zwei Brüder des mutmaßlichen Schützen Machmudow. Diese Verdächtigen waren 2009 freigesprochen worden, weil ihnen eine Schuld auch nach Meinung von Menschenrechtlern und Nebenklage nicht nachzuweisen war. Das Oberste Gericht Russlands kippte letztlich den Freispruch und ordnete ein neues Verfahren an.
Wichtigstes „Beweismittel“ für die Anklage diesmal ist der 2012 zu elf Jahren Straflager verurteilte Ex-Polizist Dmitri Pawljutschenkow, der seine Beihilfe zum Mord gestanden hatte. Er soll den Mördern die genaue Adresse Politkowskajas verraten und ihnen die Waffe besorgt haben.
Ohne Beweise zu liefern, machte Pawljutschenkow auch Aussagen zum Auftraggeber. Demnach soll der inzwischen gestorbene Oligarch Boris Beresowski gemeinsam mit dem tschetschenischen Separatistenführer Achmed Sakajew aus dem Londoner Exil die rund zwei Millionen US-Dollar für das Verbrechen bezahlt haben. Nicht nur einmal war in Moskau darüber spekuliert worden, dass der Mord eine persönliche Rache der beiden Politiker an ihrem Erzfeind Putin gewesen sein könnte. An dessen Geburtstag am 7. Oktober 2006 war Politkowskaja erschossen worden.