Wenn Politiker heute Versprechungen machen, wie jetzt im Wahlkampf, sprechen sie von weniger Arbeitslosen oder Vollbeschäftigung. Es gab eine Zeit, da waren das keine leeren Worte: Man kennt sie heute als Wirtschaftswunder, und nie wieder gab es ein so stürmisches Wachstum. Es ging nur in eine Richtung – aufwärts.
Bedenkt man, dass das Trauma des Krieges 1955 nur zehn Jahre zurücklag, dass viele durch den Krieg, Flucht oder Vertreibung oder Abwertung alles verloren hatten, muss es wie ein Wunder wirken, dass das Volk die Ärmel hochkrempelte und es dank Marshall-Plan und Westintegration in so kurzer Zeit so weit brachte. Das Wirtschaftswunder klingt heute fast wie ein Märchen.
Erbittertes Ringen um Beteiligung
So märchenhaft war es aus der Nähe betrachtet nicht. Eher turbulent – beim Wachstum und beim Kampf der Beschäftigten um einen Anteil daran. „Hie Wirtschaftswunder, wo Lohnwunder?“, hieß es 1954 auf einem Protestschild in Würzburg. 1955 sind 20 Prozent der Westdeutschen von Sozialleistungen abhängig, im Bundeshaushalt beanspruchen Sozialausgaben 42,6 Prozent des Volumens. 75 Prozent des privaten Vermögens sind im Besitz von nur 17 Prozent der Bevölkerung. Klingt das nicht wie heute auch?
Anfang der 50er Jahre war Bayern ein Billiglohnland und im Wettbewerb mit Baden-Württemberg um neue Betriebe. Zwar stiegen die Arbeiter-Stundenlöhne im Schnitt von 1950 bis 1960 von brutto 1,11 D-Mark auf 2,29 D-Mark, wenig genug im Vergleich. 1954 kommt es zum Streik in der Metallindustrie. Den „Metallern“ ging es eigentlich gut, dennoch prangerten die Gewerkschaften das Missverhältnis zwischen den Gewinnen für Unternehmer und stagnierenden Löhnen an: Die Schere klaffte immer weiter auseinander. Die IG Metall verlangte 1954 8,5 bis 15 Prozent mehr Lohn – nicht unverhältnismäßig bei einem Wachstum zwischen 7,6 und 11,5 Prozent (1955). Tarifkonflikte wurden mit harten Bandagen ausgetragen: Aussperrungen, Drohungen und Entlassungen auf Seiten der Unternehmer, großflächige Streiks auf Seiten der Gewerkschaften.
„Die Leute wollten sich etwas leisten“
150 000 Metaller erschienen im Sommer 1954 nach der Urabstimmung nicht zur Arbeit. Fritz Schösser, bayerischer DGB-Chef, erinnert an den Zwiespalt dieser Zeit, den viele Arbeitnehmer empfunden haben: „Die Leute wollten malochen, sich etwas leisten können. Und viele wollten den Aufschwung nicht bremsen, nachdem sie gerade aus dem Dreck aufgestanden waren.“
Gerade in Schweinfurt war die Streikmotivation nicht hoch. Der Streik brach nach wenigen Tagen zusammen: „Es war egal, ob sie Sachs, Kugelfischer oder SKF nehmen. Dort ging es den Leuten recht gut. Da gab es eine Weihnachtsgratifikation aufs Weihnachtsgeld, Zuwendungen für Kommunion, Ostern und Betriebsfeiern“, erinnert sich der ehemalige Betriebsratsvorsitzende bei FAG Kugelfischer, Klaus Weingart aus Grafenrheinfeld, der seit 1960 bei Kugelfischer war. „Wir“, sagt er über Kugelfischer in Anspielung auf den Chef Georg Schäfer, „waren ein Papa-Schäfer-Betrieb. Beim Kugelfischer zu arbeiten war wie im öffentlichen Dienst.“ Damals, als „die ganze Familie durchs gleiche Werkstor ging“. Mit einem Chef, der als Persönlichkeit galt und Kontakt zu „seinen“ Leuten suchte. Die Verbundenheit ging so weit, weiß Weingart, „dass 1975, als er starb, der Sarg durchs Werk gefahren wurde“. Der Streik 1954 endete übrigens mit 4,5 Prozent mehr.
Ein Aktionsplan der Gewerkschaften von 1955 mündete im berühmten 1. Mai-Plakat von 1956: „Samstags gehört Vati mir“, verlangt ein Knirps den arbeitsfreien Samstag. Auch um Lohnzuwächse, um Arbeitszeitverkürzung und Sozialreformen wird weiter hart gerungen: Mit Erfolg. 1958 erkämpft die IG Metall sechs Prozent mehr, 1960 8,5 Prozent. Die Wochenarbeitszeit sinkt bis 1961 von über 50 Stunden auf 46,2 Stunden, der Urlaub beträgt im Schnitt 15 Tage. 1959 fordert DGB-Chef Willi Richter die 40-Stunden-Woche. Ein Streik 1957 bringt Verbesserungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Mutterschutz, Kindergeld, Betriebsverfassungsgesetz und vieles mehr wurden in den Jahren zuvor Realität. All das sicherte den sozialen Frieden in turbulenter Zeit.
„Kein Bauernsterben“
Schwieriger war dies in der Landwirtschaft. Die hing Anfang der 50er Jahre von viel Handarbeit ab. Durch die Technisierung verloren viele ungelernte Arbeiter ihre Jobs, doch der frühere Bezirkspräsident des Bayerischen Bauernverbandes für Unterfranken, Karl Groenen, sieht das differenziert: „Landwirtschaft war nie ein Zuckerschlecken, damals war es richtig harte Arbeit. Da setzte ein Strukturwandel ein, durch den die Lebensqualität der Bauern stieg. Gegen den Begriff Bauernsterben wehre ich mich.“ Viele hätten ihren Hof nicht aufgegeben, sondern im Nebenerwerb weitergeführt: „Hätte das Wirtschaftswunder dies nicht ermöglicht, hätten sie den Boden aufgeben müssen. So wie in anderen europäischen Ländern, wo ganze Dörfer verödet sind.“ 1955 wurde das Landwirtschaftsgesetz, das Erzeugergemeinschaften und Maschinenringe ermöglichte, 1957 die gesetzliche Altershilfe für Landwirte verabschiedet: „Davon konnte man nicht leben, aber es war wichtig. Es war der Verdienst der Politik in Bayern wie im Bund, dass die Landwirtschaft ihren hohen Stellenwert behält.“ So konnte Bayern Hochtechnologieland werden, ohne den Charakter als lebendiges Agrarland zu verlieren.
Für diese Metamorphose war die Infrastruktur von Bedeutung. Bayern, besonders aber Unter- und Oberfranken, waren durch die Teilung in eine extreme Randlage geraten. Abgeschnitten von früheren Nord-Süd-Verbindungen und fern vom Bundesfernstraßennetz war Unterfranken auf – meist geschotterte – Gemeindestraßen angewiesen.
Klagen in Richtung München
Karl Greib, CSU-Vorsitzender in Unterfranken und seit 1950 Landtagsabgeordneter, beklagte sich bitter, dass schlechte Straßen die Touristen nicht nach Franken, sondern über die Autobahn nach Südbayern führten. Die A 3 – heute am Ende ihrer Kapazität – gab es noch nicht: Sie war erst 1964 zwischen Frankfurt und Erlangen befahrbar, Würzburg war 1961 angeschlossen, 1964 wurde die Lücke Rottendorf-Schlüsselfeld auf dem Weg nach Nürnberg geschlossen. Die Freigabe der Teilstücke wurde von winkenden Menschen am Straßenrand begleitet. Verkehr bedeutete Wachstum und Wachstum Wohlstand.
Es erinnert ein wenig an die heutigen Diskussionen zwischen Franken und Altbayern: Bereits 1953 wurde im Bayerischen Landtag teils erbittert um die Anbindung der Grenzlandbezirke gestritten. Und das war nötig: 1952 hatte es in Coburg die Denkschrift „Grenzland in Not“ gegeben, die für viele Gemeinden im Zonenrandgebiet gelten konnte. Oberbürgermeister und Wirtschaft formulierten einen dringenden Appell für mehr Förderung: „Das Zonenrandgebiet ist das Schaufenster der Bundesrepublik nach Osten. ... Wird es vernachlässigt, so sind wirtschaftliche Krisen unvermeidlich, Arbeitslosigkeit und Elend aber öffnen dem im Osten lauernden Kommunismus Tür und Tor.“ 1957 lagen von den 34 ärmsten Landkreisen der Bundesrepublik 32 in Bayern, vorzugsweise in Niederbayern, der Oberpfalz und in Franken entlang der Zonengrenze.
Die Weichen für eine bessere Zukunft wurden auch in diesen Regionen zur damaligen Zeit gestellt. Große und kleine Rädchen mussten sich drehen, um das Wachstum bis in die 70er Jahre zu erhalten. Wer heute neidisch auf das ewige Aufwärts blickt, sollte sich eines vor Augen halten: Die Menschen hatten Krieg, Verfolgung, Vertreibung und Zerstörung hinter sich. Am Beginn des Wirtschaftswunders hatten sie nichts mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen.