Kein Journalist verfolgte den Aufstieg und Fall von Martin Schulz so nahe: „Spiegel“-Reporter Markus Feldenkirchen hat die SPD-Wahlkampagne ein Jahr lang im Innersten miterlebt. Der 43-Jährige arbeitet als Reporter in Berlin und Washington, seit 2004 ist er beim „Spiegel“. 2017 wurde er zum „Journalisten des Jahres“ gewählt. Nun erscheint sein Buch „Die Schulz Story – Ein Jahr zwischen Höhenflug und Absturz“.
Frage: Deutschland hat kaum je in so rasantem Tempo Aufstieg und Fall eines Politikers erlebt. Was sagt der Fall Schulz über unsere Gesellschaft aus?
Markus Feldenkirchen: So einzigartig das Schicksal von Martin Schulz ist, es sagt doch viel über die Zeit, in der wir leben. Es gibt große Erregungswellen in die eine und andere Richtung. Menschen werden übertrieben hochgejubelt, wie es bei Schulz geschah, und auf der anderen Seite werden sie umso gnadenloser fallengelassen. Bei allen Fehlern, die Schulz gemacht hat – der Umgang mit ihm war schon extrem.
Sie kennen nun beide Seiten – Aufstieg und Absturz eines Politikers. Und Sie wissen, wie ein Politiker dies miterlebt. Was lernen Sie aus dieser Erfahrung?
Feldenkirchen: Ich sehe manches an unserer Arbeit als Politikjournalisten kritischer. Hautnah mitzubekommen, was die eigene Arbeit bei Betroffenen auslöst, hat etwas Augenöffnendes. Man kann Martin Schulz und die SPD für vieles kritisieren. Aber das Ausmaß der Häme und Schärfe, das auf Schulz eintraf, war brutal. Mitanzusehen, wie ihm das an die Nieren ging, hat mich nachdenklicher werden lassen: Man muss alles kritisch hinterfragen – aber in unserer nervösen Zeit ist es manchmal klüger, einmal durchzuatmen und Maß zu halten.
Was hat Sie beim Blick tief in das Innere der SPD am meisten überrascht?
Feldenkirchen: Überraschend war, wie sehr Politiker auf die Arbeit von uns Journalisten starren. Während vieler internen Runden ging es weniger um die eigentliche Wahlkampfarbeit als um das Echo in den Medien. Ebenso überrascht mich die übertriebene Fixierung auf die Meinungsforschung. Zum Beispiel verwarf Schulz sein geplantes Wahlversprechen, dass es mit der SPD keine Steuersenkungen geben solle, nachdem es beim Umfragen-Test durchgefallen war. Auch Angela Merkel macht so Politik. Doch das verhindert am Ende eine authentische Politik, die auf Überzeugungen basiert. Auch Medien vertrauen oft mehr auf Umfragen statt auf eigene Beobachtungen und Analysen. Daraus ergibt sich ein Kreislauf, der der Politik nicht guttut.
Wenn man Ihr Buch liest, hat man den Eindruck, Martin Schulz hat das Talent, sich zwischen zwei Alternativen stets für die falsche zu entscheiden.
Feldenkirchen: Schulz hat viele falsche Entscheidungen getroffen. Das hatte aber unterschiedliche Gründe: Dass er in den ersten Monaten unkonkret blieb und wenig angreifbare Inhalte liefern wollte, hatten ihm Meinungsforscher geraten. Später ärgerte er sich, dass er auf seine Zuflüsterer statt auf seinen Instinkt gehört hat. Aber ab dem Moment, als es bergab ging, hat auch er immer mehr seinen Kompass verloren.
Die Analysen von Schulz etwa zum Vertrauensverlust der Politiker oder seiner hoffnungslosen Lage im Wahlkampf klingen sehr klug. Warum zog er nie richtige Konsequenzen?
Feldenkirchen: Ein Problem war, dass Schulz im Laufe des Wahlkampfes immer mehr ins Schwimmen geriet und am Ende oft nicht mehr wusste, was richtig und was falsch ist. Es hatte etwas Tragisches: Er geriet immer stärker in einen Strudel der Verunsicherung. Verunsicherte machen mehr Fehler als Menschen, die an sich glauben. Dazu kommt, dass Schulz ungern Leute vor den Kopf stößt. Er hielt trotz Zweifel an Mitarbeitern und Beratern fest. Man kann sagen, dass ihm die nötige Härte oder Brutalität fehlte, um erfolgreicher zu sein. Das ist menschlich ehrenwert, wird aber in der Politik nicht belohnt.
Die SPD trägt den Leitbegriff der Solidarität vor sich her, aber man hat den Eindruck, dass es in der Partei besonders brutal und intrigant zugeht
Feldenkirchen: Es gibt kaum eine andere Partei, in der das Spitzenpersonal weniger solidarisch miteinander umgeht. Um gemeinsam erfolgreich zu sein, darf nicht jeder nur an den eigenen Vorteil denken. Diesen Eindruck erhielt man aber im Wahlkampf, gerade was die ehemaligen SPD-Größen betrifft: Gerhard Schröder torpedierte die Kampagne mit seinem Aufsichtsratsposten bei Rosneft, Peer Steinbrück ging mit Lästereien über die SPD auf Kabaretttour. Außenminister Sigmar Gabriel stahl Schulz mit Vorstößen zur Europapolitik die Schau. Das sind verstörende Rahmenbedingungen, die es jedem Kandidaten schwer machen, egal ob er Schulz, Meier oder Scholz heißt.
Warum wirken die jüngeren SPD-Wahlkämpfe heute weniger professionell?
Feldenkirchen: Wahlkämpfe sind eine Sonderdisziplin. Da geht es für die Parteien ums Ganze. Die Mitarbeiter der SPD-Zentrale im Willy-Brandt-Haus machen sicher eine gewissenhafte Arbeit in ihren Abteilungen und Referaten, aber sie sind keine Wahlkampf- und Kampagnenprofis. Deshalb hatte 1998 Franz Müntefering als damaliger SPD-Generalsekretär ein halbes Jahr vor der Wahl mit seiner „Kampa“ außerhalb der Parteizentrale bewusst eine eigene Struktur aufgebaut. Nach allem, was ich im Wahlkampf von Schulz beobachtet habe, kann ich sagen: Das war sehr klug von Müntefering.
Martin Schulz bezeichnet in Ihrem Buch das vergangene Jahr wörtlich als das „beschissenste“ seiner Karriere. Muss man sich Sorgen um ihn machen?
Feldenkirchen: Nach so einem dramatischen Absturz müsste man sich um viele Menschen Sorgen machen. Aber bei Martin Schulz glaube ich das weniger, weil er in seinem Leben schon ganz andere Tiefschläge verkraftet und sich am Boden liegend wieder aufgerappelt hat.