Im Justizpalast von Antalya an der türkischen Riviera soll sich heute Richter Abdullah Yildiz in die schlüpfrigen Details eines Falles vertiefen, der längst zu einer deutsch-türkischen Staatsaffäre geworden ist. Seit fast drei Monaten sitzt Marco in Antalya in Untersuchungshaft, mit 30 Mitgefangenen in einer Zelle. Heute beginnt sein Gerichtsverfahren – unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil er noch nicht volljährig ist. Außerdem hat das Gericht eine Nachrichtensperre über den Fall verhängt – eine Reaktion auf den Medienrummel.
Die Eltern von Marco W., die zum Prozess nach Antalya gereist sind, und die Freunde des jungen Deutschen im niedersächsischen Uelzen hoffen, dass Marco möglicherweise schon heute freikommt. Aber selbst türkische Juristen wagen keine Prognose über den Verlauf der heutigen Verhandlung. „Alles ist denkbar“, sagt ein erfahrener Istanbuler Strafverteidiger, „eine Einstellung des Verfahrens, eine Vertagung oder, allerdings eher unwahrscheinlich, ein Urteil.“ Vielleicht wird sich die Verhandlung hinter verschlossenen Türen über Stunden hinziehen, vielleicht dauert sie auch nur wenige Minuten – dann nämlich, wenn Richter Yildiz den Fall vertagt, um weitere Ermittlungen anzuordnen.
Viel wird davon abhängen, ob Charlotte M. zu dem Gerichtstermin anreist und was sie in der Verhandlung aussagt. Bleibt das Mädchen in Manchester, könnte sie zwar dort im Wege der Rechtshilfe vernommen werden. Aber das würde den Fall womöglich um Monate verzögern. Dass Marco dann vorläufig freikommt, ist nicht sehr wahrscheinlich: Einen früheren Antrag, den Deutschen gegen Kaution freizulassen, lehnte Richter Yildiz bereits ab.
Beobachter fürchten überdies, dass der Medienrummel und die Interventionsversuche deutscher Politiker eher kontraproduktiv wirken könnten: „Wenn sie sich unter Druck gesetzt fühlen, schalten manche türkische Richter erst recht auf stur“, weiß ein Anwalt. Manche Politiker gingen sogar so weit, den Fall zum Prüfstein für die EU-Tauglichkeit der Türkei zu stilisieren. Das kam vor allem bei der Justiz in Antalya nicht gut an. Oberstaatsanwalt Osman Vuraloglu bezeichnete es als eine „Taktlosigkeit“, dass sich Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in einem Telefonat mit seinem türkischen Amtskollegen Abdullah Gül für die Freilassung des Uelzeners eingesetzt hatte.
Die Mutter der 13-Jährigen, deren Anzeige den Fall ins Rollen gebracht hat, hofft auf ein exemplarisches Urteil. Man werde die Rechtsmittel gegen Marco W. „voll ausschöpfen“, sagte eine Sprecherin der Familie. Ganz so freiwillig, wie es Marco W. darstellt, waren die Kontakte seitens der 13-Jährigen möglicherweise nicht. Während Marco behauptet, die Initiative sei von Charlotte M. ausgegangen, die sich als 15-Jährige ausgegeben habe, erklärte das Mädchen gegenüber dem Staatsanwalt, Marco habe sie gegen ihren Willen im Schlaf belästigt. Von einer Vergewaltigung ist zwar nicht die Rede. Die 13-Jährige sei aber durch die Ereignisse jener Nacht „tief traumatisiert“ und werde psychologisch betreut, heißt es.
Der türkische Strafrechtsparagraph 103, nach dem Marco W. angeklagt ist, bedroht sexuellen Missbrauch Minderjähriger mit drei bis acht Jahren Haft. Selbst wenn es zu einer Haftstrafe kommt, könnte Marco allerdings den Großteil der Strafe in Deutschland absitzen.