Für einen Durchschnittsmenschen mutet der Urlaub von Matthias Blana wie eine mittelalterliche Folter an. Der 38 Jahre alte Restaurator aus dem Allgäu verbringt seinen Urlaub wann immer er kann in einem dunklen Keller in Jerusalem – zwischen tönernen Stieren aus der Bronzezeit und kanaanitischen Amphoren. In den unterirdischen Gewölben des Deutschen Evangelischen Instituts (DEI) für Altertumswissenschaft, schabt Blana Jahrhunderte alten Dreck von Keramikfragmenten, repariert kleine Statuen und versucht, aus einem Wirrwarr bunter Scherben antike Vasen zu rekonstruieren. Es kann Monate, manchmal sogar Jahre dauern, bis aus Hunderten Bruchstücken wieder ein Gefäß wird. Es war wohl kein Zufall, dass er bereits als Zwölfjähriger sein erstes Puzzle mit 10 000 Teilen zusammensetzte.
Restaurator zu sein ist Blanas „Traumberuf“, obwohl er sich erst spät für Archäologie begeisterte. Als er 19 Jahre alt war, fiel ihm ein Buch von Thor Heyerdahl in die Hände. Der norwegische Anthropologe beschrieb, wie er mit seinem Papyrusboot „Ra II“ über den Atlantik segelte, um zu beweisen, dass es schon im Altertum Kontakte zwischen Afrika und Amerika gegeben haben könnte. Das weckte Blanas Abenteuerlust. „Heyerdahl hat mich beeindruckt, weil er für andere Kulturen offen war. Ich will auch über den Tellerrand hinausblicken“, sagt Blana. Ein Artikel über eine Unterwasserausgrabung an Israels Küste weckte Blanas Neugier. Schon kurze Zeit später nahm er 1992 an einer Ausgrabung im Heiligen Land teil: „Ich war das erste Mal weit weg von Europa. Das war schon ein Abenteuer“, sagt Blana, der mit seinen Eltern kurz vor der Wende aus der DDR nach Bayern ausgewandert war.
Bei seinem ersten Auslandsaufenthalt traute er sich noch nicht, allein umherzureisen: „Die hohe Militärpräsenz hat mich eingeschüchtert. Das fing schon am Flughafen an, als ich die Soldaten mit ihren Gewehren sah. Ich dachte, es sei Krieg. Ich wollte auf der Stelle kehrt machen. Aber später hat mich dieses Land gepackt“, sagt Blana. Nur vier Wochen später kam er wieder: „Da bin ich einen Monat lang mit dem Bus durchs Land gefahren. Es ist inzwischen meine zweite Heimat geworden“, sagt Blana.
Fast jedes Jahr kommt der 38-Jährige in den Nahen Osten, besonders häufig nach Israel, um archäologische Funde zu restaurieren. „Man kann schon sagen, dass meine Frau da manchmal ein wenig eifersüchtig ist“, sagt der Vater von zwei Kindern mit einem Schmunzeln. Israel sei inzwischen fast so etwas eine zweite Heimat für ihn geworden, sagt er. Doch Blana ist kein naiver Israel-Fan: „Israel ist für mich der Fuß des Westens in der Tür des Nahen Ostens. Hier stoßen zwei Kulturen aufeinander. Das Leben ist rauer, Menschen sind rücksichtsloser“, sagt er.
Erst vor kurzem entdeckte er jedoch eine andere, tiefere Verbindung zwischen dem Judenstaat und seiner Familiengeschichte. „Ich habe mich oft gefragt, warum ich herkomme“, sagt Blana, und plötzlich gerät sein Redefluss ins Stocken. Kurz vor ihrem Tod habe seine Mutter ihm ein Familiengeheimnis offenbart, sagt Blana, und ringt jetzt sichtlich mit den Tränen: „Meine Vorfahren stammen aus Oberschlesien. Meine Großeltern hatten jüdische Nachbarn, die im Zweiten Weltkrieg verschwanden. Niemand wusste wohin.“
Es fiel seinem Großvater zu, den Hintergrund der verschwundenen Nachbarn aufzudecken: „Mein Großvater war Zugführer bei der Reichsbahn. Damals musste man ab und zu anhalten, neue Kohle laden und die Bremsen in den Waggons überprüfen.“ Eines Tages, bei einer Routineüberprüfung, entdeckte Blanas Großvater, welche Fracht er in Wahrheit transportierte: „In den Waggons waren Hunderte Menschen, Juden. Ich fürchte, mein Opa hat sie nach Auschwitz gefahren.“ Der Großvater erzählte niemand davon, nur seinem Beichtvater. Von diesem erfuhr Blanas Mutter nach dem Tod des Großvaters von dem dunklen Geheimnis, das ihren Vater Zeit seines Lebens geplagt hatte. „Rückblickend ergibt für mich jetzt alles Sinn“, sagt Blana. „Ich bin die dritte Generation und mir ist klar, dass ich keine Schuld habe. Aber immer, wenn ich hierherkomme, habe ich das Gefühl, dass 300 Tote hinter mir stehen.“ Plötzlich erhält auch Blanas Maxime „Nur wenn wir unsere Geschichte kennen, können wir unsere Zukunft besser abschätzen“ eine völlig neue Bedeutung.
Von Thor Heyerdahl inspiriert, wollte Blana anfangs Archäologie studieren, aber Freunde rieten ihm davon ab. Er wählte die Karriere als Restaurator. „Ein Archäologe muss sich auf ein bestimmtes Forschungsfeld konzentrieren. Ich kann mich hingegen mit Bodenfunden aus aller Welt und jedem Zeitraum befassen“, sagt Blana zufrieden über seinen damaligen Entschluss. „Mehr als 95 Prozent der Funde an archäologischen Ausgrabungen sind Keramikscherben“, sagt Blana. Ohne dass ein Restaurator sie hergerichtet hat, sind sie für die Forscher nur schwer verwertbar. „Meine Aufgabe ist es, Spuren der Vergangenheit wieder lesbar zu machen“, sagt Blana. „Zuerst überprüfe ich die Bruchstücke. Sind sie fest, oder bröckeln sie und sanden ab?“ Danach werden die Funde gereinigt.
Über die Jahrhunderte lösen sich Kalk und Salz aus dem Boden im Grundwasser und steigen an heißen Sommertagen mit dem Wasser zur Oberfläche. Wenn das Wasser verdunstet, bleiben Kalk und Salz zurück und bilden an den archäologischen Funden „Sinterkrusten“. Blana erklärt, wie er bei seiner Arbeit vorgeht: „Die Krusten werden mit einem zehnprozentigen Salzsäurebad abgelöst und die Scherben in destilliertem Wasser gereinigt.“ Später schabt der gelernte Zahntechniker die verbleibenden Rückstände mit einem Skalpell ab. Die Sisyphusarbeit kann beginnen.
„Ich lege die gesäuberten Scherben auf einen Tisch und beginne, sie zu ordnen, versuche herauszufinden, was zusammengehört, zuerst nach der Farbe: rote, graue, gelbe, dann nach Material und Dicke.“ Seine frühen Puzzlespiele waren wertvolle Erfahrungen: „Um ein Restaurator zu werden, braucht man viel Geduld und Hartnäckigkeit. Es ist wie ein Duell. Wer hat den längeren Atem?“
Es kann Jahre dauern, bis ein größeres Tongefäß wieder zusammengesetzt ist. „Man fängt normalerweise mit dem Boden an“, sagt Blana. Es fordert Exaktheit, und viel räumliches Denken: „Ein kleiner Fehler am unteren Teil kann dazu führen, dass oben nichts mehr passt. Deswegen benutzen wir auch reversible Kunstharzkleber oder Nitrozellulose. Schon so manches Mal habe ich ein Gefäß mühsam zusammengesetzt, nur um später dann alles wieder auseinanderzunehmen.“
Blana fühlt sich in seinem Keller in Jerusalem nicht einsam: „Funde, mit denen ich so lange arbeite, werden für mich so eine Art Familienmitglied. Ich spreche zu ihnen“, sagt Blana: „Das ist ja in Ordnung, solange sie mir nicht antworten“, fügt er lächelnd hinzu. Die Fundstücke, mit denen sich Blana beschäftigt, stammen aus unterschiedlichen Epochen und wurden meist im Umland von Jerusalem entdeckt. Immer wieder gibt es Augenblicke, die den ansonsten recht nüchternen Restaurator faszinieren. Blana erinnert sich noch gut an eine Keramikscherbe von seiner ersten Ausgrabung in Israel: „Es war ein Stück nahe dem Henkel, aus dem Schulterbereich eines Gefäßes. Ich entdeckte den Fingerabdruck des Töpfers. Das hat mich sehr gerührt, weil ich gesehen habe, dass da ein Mensch daran gearbeitet hat, und das ist immerhin 2500 Jahre her.“
Doch selbst die Begeisterung dieses enthusiastischen Restaurators kennt Grenzen: „Wenn meine Tochter daheim einen Teller zerdeppert, schmeiß ich ihn weg. Ich hole mir die Arbeit nicht ins Haus.“