Im Sommer 2017 trat ein achtjähriges Mädchen in einer britischen Morgen-TV-Show auf und wurde als Ersatz für die Glocke Big Ben präsentiert. Es war der Tag, an dem die Glocken vorerst zum letzten Mal läuteten, weil der Elizabeth Tower, der berühmte Londoner Uhrenturm, wegen Renovierungsarbeiten für vier Jahre verstummen sollte.
Die Szene mit der den Bong (lautmalend für den charakteristischen Ding-Dong-Schlag) imitierenden Phoebe, so ihr Name, mutete etwas absurd an. Doch die Briten hegen eine ganz besondere Beziehung zu der größten der fünf Glocken, Big Ben, die im Volksmund auch Stimme Britanniens genannt wird. Und so kommt es vermutlich kaum überraschend, dass auf der Insel nun ein völlig bizarrer Streit darüber entbrannt ist, ob am 31. Januar um 23 Uhr Ortszeit Big Ben ertönen soll.
Es handelt sich um die neue Glaubensfrage auf der Insel, was einiges über den Gemütszustand dieses Landes aussagt. Manche würden die Geschichte auch als Farce bezeichnen – als hätte das Königreich nicht andere Probleme. Die europaskeptischen Brextremisten auf der Insel jedenfalls wollen mit dem Bong ihren Unabhängigkeitsmoment feiern – in jener Nacht, die sie so lange herbeigesehnt haben. Die Pro-EUler schütteln den Kopf. Denn es geht keineswegs nur um politische Differenzen. Das Läuten der Big-Ben-Glocke Schlag elf würde rund eine halbe Million Pfund kosten, weil der Turm wie auch der gesamte neugotische Westminster-Palast noch immer saniert werden. Das sind mehr als 45.000 Pfund pro Bong.
Lediglich zum Volkstrauertag im November und zu Neujahr wurde ein provisorischer Boden eingezogen, um die 13,7 Tonnen schwere Big-Ben-Glocke zum Schlagen zu bringen. Würde man diesen sowie einen temporären Glockenantrieb für die Brexit-Feierlichkeiten abermals installieren müssen, so ließ die zuständige Baukommission wissen, koste das inklusive der Testläufe und der verzögerten Sanierungsmaßnahmen umgerechnet knapp 590.000 Euro.
Unterhaussprecher Lindsay Hoyle betonte, dass nicht nur die immensen Kosten ein Argument gegen die Glockenschläge seien. „Wir müssen auch bedenken, dass nur die Leute, die in Westminster leben oder dort zu Besuch sind, die Glockenschläge hören können.“ Am Parliament Square vor dem neugotischen Gebäude findet die große Party am Brexit-Abend statt. Es sei für ihn „unfassbar“, dass die „ikonischste Uhr der Welt“ nicht diesen historischen Moment markieren soll, befand der Chef der Big-Ben-Brigade, Mark Francois.
Der konservative Abgeordnete hat deshalb mit der Organisation StandUp4Brexit eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen. Bis Montag wurden knapp 270.000 Pfund an Spenden eingenommen. Francois hofft auch auf Premierminister Boris Johnson. Der zeigt sich überraschend zurückhaltend bei dem Thema. Zwar rief er noch Anfang letzter Woche mit „Bung a bob for a Big Ben bong“ zu einer privaten Sammelaktion auf, was aus der Johnson-Sprache übersetzt so viel heißt wie: „Werft einen britischen Schilling für den Big-Ben-Ding-Dong ein.“
Kurz darauf aber ruderte der Regierungschef zurück. Denn allzu triumphale Züge könnten sich rächen und sein an die Nation gegebenes Versprechen untergraben, Brexit-Anhänger und -Gegner zusammenzubringen. Wie will Johnson das Land versöhnen, wenn er im Moment der finalen Niederlage aller Pro-Europäer für viel Geld das Wahrzeichen aus Viktorianischer Zeit ertönen lässt? Als Kompromiss hat Downing Street deshalb angekündigt, via Lichtshow eine Uhr auf den Amtssitz des Premiers zu projizieren, die zum Countdown ansetzen soll – ohne Geläut. Für diesen „Notfall“ haben einige feierwütige Europaskeptiker bereits einen Plan B für das Fest im Regierungsviertel erdacht. Sie wollen um 23 Uhr elf Big-Ben-Schläge per Gettoblaster einspielen.