Das Nein der Kanzlerin fiel klar und deutlich aus – für Merkels Verhältnisse sogar überaus klar und deutlich. Für einen Abbau der kalten Progression gebe es in dieser Legislaturperiode „keinen Spielraum“, sagte die Regierungschefin Mitte Juli bei ihrem Auftritt vor der Bundespressekonferenz, ehe sie sich in den Sommerurlaub verabschiedete. Oberste Priorität habe das Versprechen, ab dem kommenden Jahr Haushalte ohne Neuverschuldung vorzulegen und dabei ohne Steuererhöhungen auszukommen. Merkel wörtlich: „Wenn neue Spielräume entstehen, wird man politisch darüber sprechen, was dann die Prioritäten sind. Zurzeit sehe ich das aber nicht.“
Wenn Angela Merkel allerdings geglaubt hat, mit diesem „Basta“ die Debatte in ihrer Partei beendet zu haben, so hat sie sich getäuscht. Der Wirtschaftsflügel der Union will sich mit dem Nein der Kanzlerin nicht abfinden und legt nach. Auf dem Parteitag in Köln Anfang Dezember will die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung von CDU und CSU (MIT) einen Antrag einbringen, noch in dieser Legislaturperiode die kalte Progression durch die Einführung einer „Steuerbremse“ abzubauen. Auf diese Weise soll der Druck auf die Bundestagsfraktion wie die Bundesregierung erhöht werden, die Mittelschicht deutlich zu entlasten.
Steuererhöhungen unnötig
Zahlreiche Landesverbände sowie etliche Kreis- und Bezirksverbände der CDU würden diesen Antrag unterstützen, sagte MIT-Chef Carsten Linnemann, das sei mittlerweile „eine breite Basisbewegung“ der CDU geworden. „Die Chancen sind nennenswert, weil der Wirtschaftsminister gesagt hat, dass er auch am Abbau der kalten Progression festhält und dieses ohne Steuererhöhung machbar ist“, so Linnemann mit Verweis auf entsprechende Äußerungen von SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel.
„Wenn die Union sagt, dass es keine Steuererhöhungen geben darf, dann darf es auch keine heimliche geben“, unterstrich der westfälische CDU-Abgeordnete. „Also brauchen wir den Abbau der kalten Progression.“ Nach seinen Angaben musste ein Arbeitnehmer vor 50 Jahren das Zwanzigfache des Durchschnitts verdienen, um im Spitzensteuersatz zu sein, heute sei es lediglich rund das Eineinhalbfache. „Wenn wir jetzt nichts machen, kann das dazu führen, dass die große Mehrheit der Bürger im Spitzensteuersatz ist. Das kann nicht sein.“ Auch der Vorsitzende der CSU-Mittelstandsunion, Hans Michelbach, forderte, das „Ärgernis der kalten Progression“ müsse beseitigt werden.
Eine aktuelle Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) unterstützt die Position des CDU-Wirtschaftsflügels. Die „heimliche Steuererhöhung durch die kalte Progression“ werde in den Jahren 2015 und 2016 zu Mehreinnahmen des Bundes, der Länder und der Kommunen von jeweils 3,8 Milliarden Euro führen, heißt es in einer aktuellen Studie. Die Steuerlast der Bürger steige auch ohne offizielle Steuererhöhungen stetig an.
Entlastung um 98 Euro im Jahr
Eine Abschaffung der kalten Progression würde nach Berechnungen des RWI alle Steuerzahler um durchschnittlich 98 Euro im Jahr entlasten. Dafür müssten die Tarifgrenzen im Steuerrecht fest an die Entwicklung der Verbraucherpreise gekoppelt werden. Geringverdiener wären relativ zu ihrem Einkommen die größten Profiteure einer Reform. Insgesamt kommt das Forschungsinstitut zu dem Ergebnis: „Aufgrund der günstigen Wirtschaftslage sowie der anhaltend geringen Inflation ist daher jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Reform.“
Um sein Ziel zu erreichen, setzt der Wirtschaftsflügel der Union, der in der Vergangenheit sowohl das Rentenpaket der Großen Koalition mit der Rente mit 63 wie die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro die Stunde kritisierte, beim Thema kalte Progression auf das Prinzip der permanenten Nadelstiche.
Man werde „nicht lockerlassen“ und wolle die Parteiführung wie die Regierung immer wieder an ihr Versprechen erinnern, die Bürger nicht zusätzlich zu belasten, lautet die Devise.
Dass diese Strategie Erfolg haben kann, hat die Frauen-Union beim Thema Mütterrente bewiesen: Mit Geduld und Ausdauer brachte sie die Benachteiligung älterer Mütter beim Rentenrecht auf CDU-Parteitagen so lange aufs Tapet, bis die eigene Regierung der Forderung nachgab. Das soll sich nun beim Abbau der kalten Progression wiederholen, zumal auch in der SPD die Forderung nach einer Entlastung der Bürger immer lauter wird.
Kalte Progression
Von kalter Progression spricht man, wenn Einkommens- und Lohnerhöhungen lediglich die Inflation ausgleichen und es trotz somit unveränderter Leistungsfähigkeit zu einem Anstieg der Durchschnittsbelastung kommt.
Beispiel: Das Preisniveau steigt in einem Jahr um zwei Prozent. Ein Steuerpflichtiger erzielt im gleichen Jahr einen Einkommenszuwachs von ebenfalls zwei Prozent. Real hat sich an seiner wirtschaftlichen Situation also nichts geändert. Seine Kaufkraft ist im Vorjahresvergleich konstant.
Da er jedoch ein nominal höheres Einkommen erzielt, steigt seine Durchschnittssteuerbelastung aufgrund des progressiven Tarifs an. Text: ben/Quelle: Finanzministerium