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WÜRZBURG: Von Tränen, Tod und Hoffnung

WÜRZBURG

Von Tränen, Tod und Hoffnung

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    Es ist Nacht geworden, ich bin wach, und ich kann spüren, wie ich immer weniger werde, langsam verschwinde. Darum, mein Bruder, nimm mich auf, küsse mich, auch wenn du nicht mehr an mich glaubst... The night has fallen, i'm lyin awake, I can feel myself fading away. So receive me brother with your faithless kiss - or will we leave each other alone like this... on the streets of Philadelphia ...

    Im Kino ist es totenstill. Viele weinen. Als der Abspann von „Streets of Philadelphia“, einem Plädoyer für mehr Menschlichkeit Aidskranken gegenüber, läuft, verharren alle regungslos. Auch Vera Fischer aus einer Kleinstadt in Unterfranken (Name von der Redaktion geändert) bleibt sitzen. Es ist das Jahr 1993 und Vera ist HIV-positiv. Das Thema Aids ist für die Mutter einer damals sechsjährigen Tochter schon lange ein großes.

    1987, dem Gründungsjahr der Aids-Beratung Unterfranken in Würzburg, ist die Infektion in 113 Ländern festgestellt, sind in Amerika 36 058 US-Bürger diagnostiziert worden, 20 849 an den Folgen gestorben. Schauspielerin Elizabeth Taylor schreibt Präsident Ronald Reagan einen flehentlichen Brief, mitzuhelfen, das Stigma „Krankheit von Homosexuellen“ aufzubrechen. Ein Jahr später wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO der 1. Dezember zum Welt-Aids-Tag erklärt.

    Die Angst, sich zu infizieren, ist groß, das Schreckgespenst Aids wird zur realen Gefahr. Ungeschützter Sex ist plötzlich lebensgefährlich. Auch in Deutschland, auch in Unterfranken. Seit bekannt ist, dass sich Menschen auch durch Blutkonserven anstecken und die Infektion dann wiederum an ihre Partnerinnen und Partner weitergeben können, und Aids nicht nur Schwule, sondern ebenso Heterosexuelle betrifft, ist die Krankheit in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

    Immer mehr Betroffene kommen zur Aids-Beratungsstelle in Würzburg, die damals von Alfred Spall geleitet wird. Auch Vera Fischer geht jetzt dort ein und aus. Zudem sind in der Region Blutkonserven aufgetaucht, die offenbar nicht auf den Erreger untersucht worden sind. Menschen nach größeren Operationen sollen sich nun auf HIV testen lassen. Dennoch wird Aids von breiten Schichten in der Bevölkerung hartnäckig als „Schwulen-Seuche“ bezeichnet. Aus Protest gegen die Diskriminierung von HIV-Infizierten wird 1990 auf der Aids-Konferenz in San Francisco das Red Ribbon, ein rotes Armband, etabliert.

    „Seit 1991 ist die rote Schleife international Symbol für den Kampf gegen Aids“, erklärt Michael Koch, der heute die Beratungsstelle in Unterfranken leitet und die rote Schleife als Anstecknadel am Revier seines Jacketts trägt. Koch erinnert sich gut an den Anfang der 1990er Jahre. „Es gab Therapien, aber keine war wirksam genug, um den Ausbruch oder den Verlauf der Krankheit zu stoppen.“

    Fast 1000 Menschen haben Koch und sein Vorgänger Spall bis heute in der Beratungsstelle kommen und gehen sehen. Doch wenn sie damals gingen, war das ein Abschied für immer. „Heute ist Aids kein Todesurteil mehr“, sagt Koch. 725 HIV-Positive leben derzeit in Unterfranken. Drei sind in diesem Jahr gestorben. Es gibt noch Todesfälle durch Aids, doch die Zahlen haben rapide abgenommen. „HIV ist ein Virus, das nur schwer übertragbar ist. Eine Ansteckung findet statt, wenn ausreichend Viren für eine Ansteckung vorhanden sind. Tränen, Schweiß, Speichel und Urin reichen nach heutigem Kenntnisstand dafür nicht aus“, erklärt Berater Koch. Ausschließlich in Sperma, Scheidenflüssigkeit, Flüssigkeit der Darmschleimhaut, Muttermilch und Blut kommen ausreichend Viren zusammen. Eintrittspforten in den Körper sind Schleimhäute oder offene Wunden. „Je mehr Viren in der Körperflüssigkeit, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung“, sagt Koch. Die Anzahl der Viren hängt wiederum vom Verlauf und der Behandlung einer Infektion ab. Sie ist in den ersten Wochen nach einer Ansteckung am höchsten und sinkt nach sechs Wochen stark ab. Durch die medikamentöse Behandlung heute kann die Viruslast sehr gering gehalten werden, die Gefahr einer Übertragung ist dann ebenfalls gering.

    Anfang der 90er Jahre, als die Menschen in dem Würzburger Kino nach dem Film „Philadelphia“ weinen, ist das noch anders. In Deutschland kommt es damals jährlich zu 2000 HIV-Neuinfektionen, die Zahl steigt kontinuierlich an, besonders bei Männern, die Sex mit Männern haben. Aids ist untrennbar mit dem Tod verbunden.

    Doch Vera sieht das schon damals anders. Sie ist infiziert, aber nicht krank. Sie sieht Menschen sterben, denkt aber zu keiner Zeit an den eigenen Tod. Sie hört vom nahen Tod des prominenten Rocksängers Freddy Mercury im Radio. Mercury stirbt am 24. November 1991 im Alter von 45 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung. Sein Tod bewegt die Welt. Auch Vera ist traurig, aber im Gegensatz zu so vielen anderen Infizierten nicht von Hoffnungslosigkeit erfüllt.

    Mit seiner Rockgruppe Queen hatte Mercury in den letzten Monaten vor seinem Tod Unglaubliches geschafft: bis zuletzt steht der Sänger im Studio, nimmt Songs auf, die vom nahen Ende künden. „The Show must go on“ ist eines der Werke, die untrennbar mit Mercury und seinem frühen Aidstod verbunden sind.

    „Show must go on“ wird zum Motto. Vor allem prominente Opfer halten das Thema Aids von Anfang an im Fokus. In Deutschland hat man die Krankheit bereits 1982 bei einem Patienten in Frankfurt diagnostiziert, doch erst drei Jahre später löst die Nachricht, dass Frauenschwarm und Schauspieler Rock Hudson an Aids gestorben ist und seine Homosexualität bis zu seinem Tod verheimlicht hat, eine Welle des Entsetzens aus.

    Hudsons Todesjahr 1985 ist das Jahr, in dem der US-Wissenschaftler und Aidsforscher Robert Gallo das Patent für den ersten Antikörper-Test erhält. Die Diagnosen schnellen weltweit in die Höhe. Unterfränkin Vera fährt zu dieser Zeit trotz der vielen sorgenvollen Berichte über Aids volles Risiko in ihrem Leben. Sie ist in eine Clique geraten, in der man sich gerne einen Schuss setzt, um den Problemen des Lebens zu entfliehen. Heroinspritzen werden gegenseitig ausgetauscht.

    „Wir wussten, dass gebrauchte Spritzen gefährlich sind, aber es war uns egal. Ich war mir ja nicht mal klar darüber, dass ich ein echter Junkie war“, sagt Vera heute kopfschüttelnd. „Ich doch nicht! Ich führte doch nebenher ein völlig normales Leben!“ Kleinstadtidylle nach außen hin. Vera das schwarze Schaf in einer erfolgreichen, etablierten Familie. Und dann Ende der 80er Jahre der Schock: Vera ist HIV-positiv!

    „Irgendwie kam das nicht so überraschend, ich war damals in einer Drogentherapie und nicht die Einzige, die damit konfrontiert war.“ Die Ärzte geben Vera noch drei bis vier Jahre. Doch Vera hat keine Zeit zum Nachdenken, lässt die Diagnose gar nicht an sich heran. „Es ging mir gut, ich fühlte mich mich gesund. Ich und sterben? Absolut unmöglich! Ich hatte meine kleine Tochter zu versorgen. Da stirbt man doch nicht“, schildert Vera heute die Situation.

    Die Anfang Fünfzigjährige ist eine gut aussehende Powerfrau mit strahlenden Augen und herzlichem Lachen. Nichts weist auf ihre bewegte Vergangenheit hin. Und nichts auf eine HIV-Infektion. „Meine Werte sind super, sind von denen eines gesunden Menschen gar nicht mehr zu unterscheiden“, erzählt sie und Michael Koch, Leiter der Beratungsstelle Unterfranken, lächelt. Die beiden kennen und schätzen sich seit Jahren. Vera gehört zu den Menschen, die es geschafft haben. Die die Hilfe der Beratungsstelle von Anfang an angenommen, nie die Hoffnung auf ein Wundermittel aufgegeben haben.

    „Zum Glück“, sagt Koch. Und dass man heute als Infizierter abgesehen von der notwendigen Tabletteneinnahme nahezu normal leben und alt werden könne. „Ende der 80er, Anfang der 90er haben wir in der Uni-Klinik so viele todkranke Menschen gesehen“, sagt er. Auf Krücken, in Rollstühlen und wahnsinnig abgemagert kämpften sie damals vergeblich um ihr Leben.

    Heute ist das anders. Der Durchbruch, so sagt Michael Koch, kam Mitte der 90er Jahre mit Kombinationstherapien. Mit Highly active antiretroviral therapy (HAART) etwa wird die medikamentöse Kombinationstherapie aus mindestens drei antiretroviralen Wirkstoffen bezeichnet. Ziel ist es, den Ausbruch von Aids hinauszuzögern. Eine erfolgreiche Therapie kann die Viruslast (Konzentration des HI-Virus im Blut) unter die Nachweisgrenze drücken und das Immunsystem gegen opportunistische Infektionen stärken.

    Aus dem Körper eliminieren kann man das Virus damit nicht. Aids ist also nicht heilbar, aber in den Griff zu bekommen. „Wer heute gleich nach der Diagnose mit der Therapie anfängt, hat gute Chancen, gar nicht zu erkranken und auch nur noch minimal ansteckend zu sein“, erklärt Michael Koch.

    Vorrangiges Ziel in seiner Beratungsstelle ist nun, die Menschen dafür zu gewinnen, sofort einen Test zu machen, wenn sie das Gefühl haben, ein Risiko eingegangen zu sein. Je früher die Behandlung beginnt, desto besser sind die Chancen. Der Spruch „Gib Aids keine Chance“ hat an Bedeutungskraft nichts verloren. „Viele haben aber Angst vor der Wahrheit, verdrängen das lieber, machen keinen Test. Und genau hier müssen wir als Beratungsstelle ansetzen.“

    Auch die Nutzung von Kondomen, die laut Robert-Koch-Institut in Deutschland offenbar rückläufig ist (das zeigt der Anstieg von anderen sexuell übertragbaren Krankheiten), müsse weiterhin wirksam propagiert werden. Weil der Kauf von Kondomen im Supermarkt Mitte der Achtziger von Jugendlichen noch als peinlich und undenkbar betrachtet wurde, griff man mittels Aids-Aufklärungskampagne zu einem Werbespot zurück, der bis heute als legendär gilt.

    So brüllt Hella von Sinnen als Supermarktkassiererin quer durch den Raum und über den hochroten Kopf des schüchternen Kunden (Ingolf Lück) hinweg: „Tina, was kosten die Kondome?“ Die peinliche Situation löst sich auf, weil andere Kunden ganz selbstverständlich über den Preis Bescheid wissen. Heute ist der Kauf von Kondomen für Jugendliche schon lange kein Grund mehr, rot zu werden. Fast 80 Prozent der 16- bis 44-jährigen Singles in Deutschland verwenden beim Sex Kondome. Die Zahl der verkauften Kondome stieg von 110 Millionen 1988 auf 221 Millionen 2011 um das Doppelte an.

    Die Furcht vor einer Stigmatisierung, wenn man sich als HIV-positiv outet, ist jedoch weitgehend geblieben. Man fühle sich oft, so klagen Infizierte, als habe man einen Stempel auf der Stirn: „Nicht anfassen! Aids!“ Die Unaufgeklärtheit und das Schüren von Ängsten machen auch Vera nach all den Jahren noch wütend. „Es ist schon vieles besser geworden, aber was das Thema ärztliche Behandlung betrifft, da könnte man oft meinen, wir leben Anfang der 90er“, sagt sie.

    Ausgenommen von der Kritik seien Aids-Spezialisten wie Professor Dr. Hartwig Klinker von der Uniklinik Würzburg. Er gehört zu den Ärzten in Unterfranken, die sich auf die Behandlung von HIV-Infizierten spezialisiert haben und eng mit der Beratungsstelle zusammenarbeiten. Doch vor allem in Zahnarztpraxen, so Vera, gehe man alles andere als professionell mit HIV-Positiven um. „Da kommen blöde Ausreden, warum man nicht behandelt werden kann, das bin ich so leid. Dabei bin ich gar nicht verpflichtet, etwas zu sagen“, erregt sich Vera, die regelmäßig Seminare und Vorträge zum Thema Aids und medizinische Fortschritte besucht.

    Auch im Film „Philadelphia“ geht es 1993 um Vorurteile und ungerechtfertigte Ausgrenzung. Schauspieler Tom Hanks spielt einen an Aids erkrankten homosexuellen jungen Anwalt, der gegen Vorurteile und Diskriminierung vor Gericht zieht. Im Krankenhaus überbringt ihm sein anfangs ebenfalls vorurteilsbehafteter Anwalt die Nachricht, dass der Prozess gewonnen wurde, wenig später stirbt der Anwalt im Kreis seiner Familie und Freunde. Die emotionalen Szenen im Film brennen sich durch eine starke Filmmusik ins Gedächtnis der Kinobesucher ein.

    I was bruised and battered and I couldnt tell what i felt. I was unrecognizable to myself. I saw my reflection in a window. I didnt know my own face. Oh brother are you gonna leave me wastin away On the streets of Philadelphia...

    „Wenn dieser Song von Bruce Springsteen im Radio kommt, fange ich auch heute noch an zu heulen“, sagt Thomas aus Würzburg, der viele Freunde an Aids verloren hat. Der Film „Philadelphia“ gewährt Einblick in eine Welt, die vielen bis dato verschlossen ist. Gefühle werden intensiv transportiert. Angst. Ausgrenzung. Wut. Schmerzen. Trauer. Hilflosigkeit. Vera aus der Kleinstadt in Unterfranken kennt diese Gefühle. Ihr Mann stirbt Anfang der 90er an Aids. „Das war schlimm damals“, sagt sie heute gefasst. „Einer nach dem anderen starb einfach weg.“

    Vera ist verschont geblieben. Warum, weiß sie bis heute nicht. „Ich habe nicht geglaubt, dass ich an Aids sterben könnte. Von Anfang an nicht“, sagt sie. Sie lacht. „Und dabei bleibt es!“

    Aidsberatung in Unterfranken

    Wer sich über Aids informierten möchte, kann sich an die Aids-Beratungsstelle Unterfranken in Würzburg wenden. Leiter Michael Koch ist unter der Telefonnummer 0931/386 58 200 oder per E-mail zu erreichen: Michael.Koch@aidsberatung-unterfranken.de. Informationen im Internet gibt es unter www.aidsberatung-unterfranken.de

    Ein HIV-Test ist erst zwölf Wochen nach einem Risiko möglich, man kann ihn kostenlos beim Gesundheitsamt machen lassen und das Ergebnis in der Regel eine Woche später abholen. Ein negatives Test-Ergebnis bedeutet, es hat keine Ansteckung stattgefunden. Ein positives Testergebnis bedeutet, es gab eine Ansteckung. Wann diese stattfand oder wie der Gesundheitszustand ist, sagt der Test nicht aus.

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