Auf die Frage, ob sie zu Weihnachten selbst musizieren und singen, antworteten 60 Prozent der Menschen in Deutschland mit „Nein“, so eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov. Doch stumm bleiben diese Singmuffel nicht: Sie trällern unbewusst zu Liedern aus dem Radio und von der CD. Frauen erweisen sich der Umfrage zufolge mit 45 Prozent als hörbar sangesfreudiger als Männer (35 Prozent). Auch die jüngeren Deutschen zwischen 18 und 24 Jahren stimmen nach eigenen Angaben zu 51 Prozent Weihnachtslieder an. Guido Fuchs, außerplanmäßiger Professor an der Universität Würzburg, erklärt was die modernen Weihnachtslieder überhaupt noch mit Weihnachten zu tun haben.
Frage: Jedes Jahr wird man weit vor Weihnachten schon in den Kaufhäusern und im Radio mit Weihnachtsliedern beschallt – warum eigentlich?
Guido Fuchs: Weihnachten ist für viele Branchen das wichtigste Datum im Jahr und wird entsprechend aggressiv möglichst frühzeitig beworben. Es fällt auf, dass es nur noch „Weihnachten“ beziehungsweise die „Weihnachtszeit“ gibt als Begriff für den ganzen Zeitraum, der eigentlich auch den „Advent“ umfasst, und der etwas ganz anderes ist als „Vorweihnachtszeit“. Für viele Menschen ist Weihnachten auch spätestens mit dem 25. Dezember beendet, obwohl die Weihnachtszeit eigentlich dann erst beginnt. Dass heute Weihnachtslieder schon Wochen vorher in Kaufhäusern und auf Weihnachtsmärkten erschallen, zeigt, dass sie weitgehend ihrer ursprünglichen Funktion entkleidet sind und nur noch als jahresendzeitliches Accessoire wie Lichterketten, Glühwein und Kitschengel fungieren.
Sie sagen, die Weihnachtslieder sind weitgehend ihrer ursprünglichen Funktion entkleidet. Wozu waren sie denn ursprünglich da, welchen Zweck sollten sie erfüllen?
Fuchs: Das Lied im Allgemeinen und das Weihnachtslied im Speziellen erfüllt verschiedene Funktionen. Am Anfang stand die theologische Aussage, die mittels des Liedes verbreitet und gefestigt wurde. Lieder hatten gottesdienstliche Funktionen, sie waren eine Form des Gebetes. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden sie auch Teil einer familiären Inszenierung des Weihnachtsfestes am Heiligabend. Damals mussten Kinder mit Instrumenten wie Flöte oder Klavier Stücke vorspielen.
Heutzutage wird dagegen nur noch selten gemeinsam musiziert und gesungen. Warum ist das im Vergleich zu früher nicht mehr üblich?
Fuchs: Die Heiligabendfeier in den Familien entstammt eigentlich einer evangelischen Hausandacht, die auch Anleihen nahm am kirchlichen Gottesdienst: Der Vater las das Evangelium von der Geburt Christi („Es begab sich aber zu der Zeit“), es wurden natürlich Gebete gesprochen und Lieder gesungen. Der religiöse Hintergrund dieser familiären und häuslichen Feier nahm immer mehr ab, übrig blieb dann die „Bescherung“, die übrigens früher gar nicht zum Kern dieser Feier gehörte. Heute stellt sie alles andere in den Schatten. Auch das Singen hat sicherlich abgenommen. Singen ist ja auch immer eine Gefühlsäußerung, derer man sich – zumal mit religiösem Inhalt – heute oft schämt. Man lässt eher singen – von CD und aus dem Fernsehen heraus.
In Ihrem Buch haben Sie Weihnachtslieder aus 2000 Jahren behandelt. Wie haben sich die Lieder hinsichtlich Text/ Thema und Melodie im Laufe der Zeit gewandelt?
Fuchs: Die Lieder etwa ab dem 4. Jahrhundert – seit dieser Zeit wird überhaupt erst das Geburtsfest Jesu begangen – spiegeln auch die jeweiligen Zeiten und ihre Frömmigkeitsformen wider. So gesehen gibt es durchaus große Unterschiede zwischen einem Lied aus dem 4. Jahrhundert, dem Hochmittelalter und dem 19. Jahrhundert, auch wenn es immer um Weihnachten geht. Bei den neueren Liedern muss man unterscheiden: Lieder für den gottesdienstlichen Gebrauch und allgemeine „christmas-songs“.
Was ist darunter zu verstehen? Haben solche modernen Lieder überhaupt noch was mit Weihnachten zu tun?
Fuchs: Die sogenannten christmas-songs verallgemeinern oft die spezielle religiöse Aussage auf die – freilich nicht unwichtigen – Themen Friede, Liebe und Mitmenschlichkeit. Zum Beispiel: „I'm not dreaming of a white Christmas. All I'm dreaming of the whole day long is a peaceful world“ von Gilbert o' Sullivan. Das wird dann mit viel Geklingel unterlegt, und man hofft, dass sich so die Musik verkauft.
Welches Weihnachtslied gefällt Ihnen persönlich am besten?
Fuchs: Schwer zu beantworten. Vielleicht „Ich steh an deiner Krippe hier“ von Paul Gerhardt aus dem 17. Jahrhundert. Die Melodie ist schön, der Text sehr tief – weil er aus einer sehr dunklen Zeit stammt. Paul Gerhardt selbst hat viel Leid und Not auch in der eigenen Familie erleben müssen, er blieb doch ein glaubensfroher Mensch: „Ich lag in tiefer Todesnacht, du wurdest meine Sonne. O Sonne, die das werte Licht des Glaubens in mir zugericht, wie schön sind deine Strahlen“.
Der Professor und die Weihnachtshits
Guido Fuchs ist seit 1999 außerplanmäßiger Professor an der Universität Würzburg. Der 1953 in Göppingen geborene katholische Liturgiewissenschaftler ist Publizist und leitet das Institut für Liturgie und Alltagskultur in Hildesheim, seinem Wohnort. Fuchs hat die beiden Bücher „Unsere Weihnachtslieder und ihre Geschichte“, erschienen 2009 im Herder-Verlag, sowie „Heiligabend. Riten – Räume – Requisiten“, erschienen 2002 im Pustet-Verlag, herausgegeben. Weihnachtslieder gehören zum Fest wie Kerzen, Baum und Bescherung. Dabei erklingen zwischen Kaufhauslautsprechern, Glühweinständen und trautem Familienkreis meist bekannte Weisen:
- „White Christmas“ ist die meistverkaufte Single der Welt: Laut Guinness-Buch der Rekorde gingen Bing Crosbys Versionen des 1941 von Irving Berlin (1888-1989) komponierten Liedes in allen Formaten etwa 100 Millionen Mal über den Ladentisch. Die Single erscheint seit 1942 Jahr für Jahr in der Adventszeit neu.
- „Stille Nacht“ ist das beliebteste Lied: In einer Umfrage nannten gut 24 Prozent den Klassiker als ihre Nummer eins unter den traditionellen Weihnachtsliedern in deutscher Sprache. Der Pfarrer Josef Mohr (1792-1848) als Texter und der Organist Franz Xaver Gruber (1787-1863) als Komponist schufen das inzwischen in rund 300 Sprachen übersetzte Lied, das erstmals am Heiligen Abend 1818 in einer Kirche bei Salzburg erklang. Seit 2011 steht „Stille Nacht“ sogar im UNESCO-Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Österreich.
- „O Tannenbaum“ können die meisten auswendig: In einer Umfrage erklärten 90 Prozent der Angesprochenen, sie beherrschen mindestens die erste Strophe des Textes. Auch wenn die Melodie eher an Studentenweisen aus dem 19. Jahrhundert erinnert, ging es aus dem rund 300 Jahre zuvor entstandenen schlesischen Volkslied „Ach Tannebaum“ hervor.
- „Josef, lieber Josef mein“ gilt als ältestes Weihnachtslied: Das im 14. Jahrhundert von einem „Mönch aus Salzburg“ aufgezeichnete deutsche Krippenlied ging aus dem lateinischen Weihnachtshymnus „Resonet in laudibus“ hervor. Rund 400 Jahre bevor das gemeinsame Singen in der Familie zur Weihnachtszeit populär wurde, war es Teil der kirchlichen Liturgie.
- „Last Christmas“ ist der meistgespielte weihnachtliche Popsong: Das von George Michael komponierte Lied wurde erstmals 1984 von der Gruppe „Wham!“ veröffentlicht. In Großbritannien ist es mit mehr als 1,4 Millionen Scheiben das meistverkaufte Musikstück, das nie die Charts anführte. In Deutschland gehört „Last Christmas“ seit 1997 in der Adventszeit zu den fünf am meisten im Radio gespielten Songs. Texte: kf, dpa