Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Wenn Eltern ihre Kinder quälen

Politik

Wenn Eltern ihre Kinder quälen

    • |
    • |

    Sie werden verbrannt, geschlagen oder geschüttelt. Drei Kinder sterben jede Woche in Deutschland an den Folgen von Misshandlungen. Wir sprachen über dieses Thema mit dem Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos. Er meint, dass Anzeichen für Misshandlungen oft nicht erkannt werden, weil das System versagt.

    Frage: „Der Kinder- und Jugendschutz versagt auf der ganzen Linie“, behaupten Sie in Ihrem Buch. Worauf stützen Sie diese Aussage?

    Michael Tsokos: In den zwanzig Jahren, in denen ich schon als Rechtsmediziner arbeite, habe ich mit grausamer Regelmäßigkeit tote Kinder untersucht, bei denen sich im Rahmen der Obduktion herausstellte, dass sie Opfer von Kindesmisshandlung geworden sind. Und im Nachhinein habe ich bei einem Großteil der Fälle mitbekommen, dass es überhaupt kein weiteres Ermittlungsverfahren gibt. Dabei sind da sehr oft durchaus staatliche Institutionen involviert, Jugendämter, unter deren Obhut das Kind war. Und am Ende haben immer alle alles richtig gemacht – aber das Kind ist tot. Wir untersuchen hier an der Berliner Charité auch viele lebende Kinder, die misshandelt worden sind. Das sind Mädchen und Buben, die mit dem Gesicht in kochendes Wasser getaucht oder in eine viel zu heiße Badewanne gesetzt wurden, oder an denen jemand Zigaretten ausgedrückt hat. Und das sind noch die milderen Formen von Misshandlungen. Es gibt auch immer wieder schwerste Schütteltraumata, die Kinder erleiden dabei Lähmungen oder bleiben blind – wenn sie das Glück haben zu überleben. Und das ist nicht nur in Berlin so, sondern überall in Deutschland.

    Die offiziellen Polizeistatistiken melden etwa 4000 Fälle von Kindesmisshandlung pro Jahr. Die Dunkelziffer soll aber wesentlich höher sein – manche rechnen sogar mit 200 000 Misshandlungen. Woher kommt diese Zahl?

    Tsokos: Das sind Hochrechnungen aus Studien, in denen Krankenakten aus Kliniken ausgewertet wurden. Da hat man quasi im Nachhinein festgestellt, dass die Verletzungen nicht von einem normalen Sturz oder einem Unfall stammen können. Aber noch viel erschreckender als diese Hochrechnung finde ich die Tatsache, dass laut Polizeistatistik jedes Jahr mehr als 150 Kinder an den Folgen von Misshandlungen sterben – das sind drei Kinder pro Woche.

    Sie behaupten, Sachbearbeiter von Jugendämtern, Kinderärzte, Staatsanwälte und Richter seien für diese hohe Dunkelziffer mitverantwortlich – weil sie die Anzeichen für Misshandlungen oft nicht erkennen. Wie erkennt man denn, wenn ein Kind misshandelt wird?

    Tsokos: Das Wichtige ist, dass man sich zuerst einmal klarmacht, dass es Erwachsene gibt, die mit Kindern Dinge tun, die man sich als normaler, mitfühlender Mensch überhaupt nicht vorstellen kann. Ich habe so oft schon in Gerichtsverhandlungen gehört, dass ein Richter zum Beispiel sagt: „Das glaube ich nicht, so etwas würde eine Mutter doch niemals machen.“ Aber man muss solche Geschichten immer wieder kritisch hinterfragen. Sind das jetzt Doppelstriemen im Gesicht, die tatsächlich davon herrühren, dass ein Kind gegen einen Türrahmen gelaufen ist – oder stammen sie von Schlägen mit einem Gürtel oder einem Kabel? Hat das Kind unterschiedlich alte Verletzungen? Musste dieses Kind schon mehrfach wegen unklarer Verletzungen behandelt werden? Das sind alles Zeichen, die auf eine Misshandlung hindeuten können.

    Merkt man auch an den Verhaltensweisen eines Kindes, dass es misshandelt wurde?

    Tsokos: Ja, da gibt es vor allem zwei Phänomene, die wir erleben, wenn wir die Kinder in der Klinik untersuchen. Das ist einmal die sogenannte „Frozen Watchfullness“, also eine eingefrorene Wachsamkeit. Diese Kinder gucken mit starren Augen, ohne sich irgendwie zu bewegen, beobachten ihre Umgebung und versuchen, dabei bloß nicht aufzufallen – weil sie gelernt haben, wenn sie wahrgenommen werden, werden sie geschlagen. Die zweite Form ist völlige Distanzlosigkeit. Da springen uns Kinder, die uns noch nie gesehen haben, auf den Arm, schmiegen sich an uns und lächeln uns an. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass Schreien und Weinen keinen Erfolg bringt, da wird man erst recht geschlagen. Und deshalb versuchen sie, jeden Unbekannten mit Freundlichkeit zu entwaffnen.

    Wenn so klar erkennbar ist, dass ein Kind misshandelt wird – warum erkennen so viele Erwachsene das nicht?

    Tsokos: Die Hemmschwelle, sich in eine Familie einzumischen, ist in Deutschland sehr hoch. Aber viele vergessen dabei meiner Meinung nach, dass nicht nur die Eltern Teil einer Familie sind, sondern auch die Kinder. Und natürlich gibt es auch Fälle, in denen Verletzungen oder Auffälligkeiten etwa durch eine Krankheit bedingt sind. Dafür sind ja dann auch wir Rechtsmediziner da, wir entlasten auch Eltern, wenn sie falsch verdächtigt wurden. Auch solche Fälle kommen immer wieder vor. Aber das Wichtige ist doch: Wenn man auch nur den leisesten Zweifel hat, sollte man alles tun, um auszuschließen, dass ein hilfloses Kind möglicherweise brutal gequält wird.

    Professor Michael Tsokos

    Der Mediziner Professor Michael Tsokos, 47, ist seit dem Jahr 2007 Leiter der Rechtsmedizin an der Berliner Charité. Gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Saskia Guddat, die auch aus der Sat.1-Sendung „Die Ermittlungsakte“ bekannt ist, hat er das Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ (Verlag Droemer-Knaur, 19,99 Euro) geschrieben. FOTO: dpa

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden