Die Szene ging als Videoclip um die Welt. Mit einem gelben Bulldozer schoben die Dschihadisten des Islamischen Staates mitten in der Wüste Kontrollposten an der syrisch-irakischen Grenze beiseite, bejubelt von ihren Waffenkameraden. „Wir zerschmettern Sykes-Picot“, twitterten die bärtigen Extremisten. Die vor hundert Jahren von den damaligen Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich geschaffenen Realitäten existieren für diese Gotteskrieger nicht mehr. „Unser Vormarsch wird nicht stoppen, bis wir den letzten Nagel in den Sarg der Sykes-Picot-Verschwörung geschlagen haben“, polterte der selbst ernannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi.
Nicht nur für diese Radikalen, auch im kollektiven Bewusstsein der 300 Millionen Araber ist Sykes-Picot ein Verrat, der bis heute präsent ist. Das dubiose Geheimabkommen vom 16. Mai 1916 machte alle Hoffnungen auf Unabhängigkeit und einen eigenen Staat zunichte. Und es schuf die Ursachen für die endlosen Konflikte, die die Region bis heute plagen und mittlerweile an den Rand eines Zusammenbruchs gebracht haben. „Ein Frieden, der jeden Frieden beendete“, betitelte der US-Historiker David Fromkin sein Standardwerk über die Entstehung des modernen Nahen Ostens.
Damals kurz vor Weihnachten 1915 eilte der junge britische Abgeordnete Mark Sykes in die Downing Street 10. Unter dem Arm hatte er eine Landkarte und ein dreiseitiges Manuskript. Vor dem Kriegskabinett seiner Majestät sollte der 36-Jährige seine Ideen darlegen, wie die europäischen Mächte England und Frankreich nach einer Niederlage des Osmanischen Reiches die arabische Welt unter sich aufteilen könnten. „Ich würde eine Linie ziehen vom e von Acre bis zum letzten k von Kirkuk“, plädierte der forsche Baron vor den versammelten Ministern. Diese zeigten sich beeindruckt und gaben grünes Licht.
Sykes schnurgerade „Linie im Sand“, wie sie der britische Historiker James Barr 2011 in seinem Buch über die Schicksalsjahre nach dem Ersten Weltkrieg nannte, teilte die Region in eine französische und eine britische Machtsphäre – ungeachtet der Wünsche der Bevölkerung, ungeachtet aller ethnischen und konfessionellen Grenzen, quer durch zahlreiche Stammesgebiete.
Das riesige neue Kolonialgebiet aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches mit seinen 20 Millionen Menschen erstreckte sich von Beirut bis an den Persischen Golf, von Ostanatolien bis zum Sinai. „Selbst unter den Maßstäben der Zeit war es ein schamlos eigennütziger Pakt“, urteilte James Barr über diesen imperialen Coup.
Denn das Komplott zwischen London und Paris stand im Widerspruch zu älteren Zusagen, die die britische Führung im Juli 1915 König Hussein ibn Ali, dem letzten haschemitischen Herrscher über Mekka, und seinen drei Söhnen Ali, Faisal und Abdullah gegeben hatte. Um den Potentaten auf der Arabischen Halbinsel zum Aufstand gegen die Osmanen zu bewegen, versprach ihm der britische Hochkommissar in Ägypten, Sir Henry McMahon, in einem geheimen Briefwechsel ein unabhängiges arabisches Großreich.
Die Araber erfüllten ihren Teil der Abmachung. Militärisch beraten wurden ihre Reiterhorden vom britischen Archäologen und Agenten Thomas Edward Lawrence, der später unter dem Namen Lawrence von Arabien berühmt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg erschien Husseins Sohn Faisal auf der Friedenskonferenz von Versailles, um die Forderungen einzutreiben – vergeblich. Die Araber mussten ihre Hoffnungen auf Unabhängigkeit vorerst begraben. Die Konturen der neuen Ordnung vor hundert Jahren erwiesen sich als erstaunlich robust, genauso wie die Konflikte, die diese willkürliche Nachkriegsregelung geschaffen hat, urteilt Oxford-Historiker Eugene L. Rogan. Keine Gruppe von Staaten hat in den zurückliegenden Jahrzehnten so viele Kriege, Bürgerkriege, Umstürze und Terroranschläge erlebt wie die orientalischen Geschöpfe Englands und Frankreichs. Sykes-Picot war der Beginn, auch wenn bei der historischen Unglücksbilanz des Nahen Ostens heute vieles zusammenkommt: das Versagen der arabischen Eliten, die Rolle des politischen Islam und des Militärs, die Entdeckung des Erdöls, der Dauerkonflikt um Israel sowie die fortwährenden Eingriffe Europas, der Vereinigten Staaten und Russlands.