Für Claudia Roth ist es eine völlig neue Herausforderung. Und dabei mangelt es ihr nicht an Erfahrung. Schon in der letzten Legislaturperiode hatte die frühere Grünen-Chefin als Bundestagsvizepräsidentin die Aufgabe, Sitzungen des Bundestags zu leiten und dafür zu sorgen, dass die Regeln eingehalten, die Redezeiten nicht überschritten oder Zwischenfragen zugelassen werden. Doch das war in Zeiten der Großen Koalition mit ihrer 80-Prozent-Mehrheit ein Leichtes im Vergleich zum neuen Bundestag, wie sie nach nur wenigen Sitzungstagen seit der Bundestagswahl zugibt.
Denn der neue Bundestag ist mit 709 Abgeordneten und sechs Fraktionen nicht nur deutlich größer als der letzte mit lediglich vier Fraktionen, mit dem Einzug der AfD ist auch der Umgangston ein anderer geworden. „Es herrscht ein anderer Sound in den Reden“, sagt nicht nur Claudia Roth, sondern sagen alle, die schon etliche Jahre Parlamentserfahrung auf dem Buckel haben. „Kein Vergleich zu früher“, heißt es in der Unionsfraktion.
„Laut, aggressiv, schrill“, sagen Sozialdemokraten, manche Grüne finden es gar „bedrohlich“, wenn die 92 Mitglieder der AfD-Fraktion in geschlossener Formation einziehen und wie eine Phalanx am rechten Rand des Plenarsaals Platz nehmen.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) kündigte nach den ersten äußerst lebhaften Debatten mit heftigen gegenseitigen Vorwürfen bereits an, dass sich der Ältestenrat darüber verständigen müsse, „ob wir in dieser Form unsere parlamentarischen Auseinandersetzung bereichern“. Und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth sagt, es sei wichtiger denn je, „genau zuzuhören, zu argumentieren, sich nicht provozieren zu lassen, einfach besser zu sein“.
Wie schwierig das im Einzelfall ist, erlebte Claudia Roth in dieser Woche, als sie als amtierende Präsidentin die Debatte über die geplante Diätenerhöhung leitete. Nur eine knappe halbe Stunde dauerte die Aussprache, doch in dieser ging es äußerst turbulent zu, an erregten Zwischenrufen herrschte kein Mangel. Mehrfach musste Roth in die Debatte eingreifen und für Ruhe sorgen, als der AfD-Abgeordnete Stefan Keuter die anderen Parteien lautstark attackierte.
„Voller Scham haben wir den Antrag von Union, der SPD und der FDP zur Kenntnis genommen“, sagte er gleich zu Beginn seiner Rede, „schämen Sie sich nicht?“
Den mehrfach erhobenen Vorwurf des AfD-Politikers, der Bundestag scheue die offene Debatte und winke die Diätenerhöhung einfach durch, wies Roth allerdings entschieden zurück: Man befinde sich doch „mitten in der Aussprache“, sagte sie unter dem Beifall aller anderen Fraktionen.
Noch deutlicher wurden andere Abgeordnete. Mehrfach wurde der AfD „Scheinheiligkeit“ vorgeworfen, weil sie zwar die Diätenerhöhung kritisiere, für ihre Fraktionssitzungen aber auf Kosten der Steuerzahler üppige kalte Buffets mit Getränken, belegten Brötchen und speziellen Mettigeln mit der Aufschrift AfD für mehrere Zehntausend Euro bestellt habe. Und Grünen-Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann erinnerte daran, dass die AfD in den diversen Vorberatungen der Diätenerhöhung nicht widersprochen und keinen gegenteiligen Antrag eingebracht habe, in der Öffentlichkeit aber so tue, als sei sie dagegen. „Wer meint, uns hier im Parlament vorführen zu können, der muss früher aufstehen.“
So zeigt sich bereits nach den ersten beiden Sitzungswochen der neuen Legislaturperiode, dass der Einzug der AfD nicht nur zu schärferen Debatten, sondern auch zu einem Näherrücken aller anderen Parteien führt. Deutlich wurde dies, als der neue starke Mann der AfD, Partei- und Fraktionschef Alexander Gauland, in dieser Woche einen Antrag für einen vollständigen Grenzschutz und die Zurückweisung von Migranten bei einem unberechtigten Grenzübertritt einbrachte. Den Vorwurf Gaulands, es gebe ein „staatsgefährdendes Versagen in Fragen der Grenzsicherung“ wiesen Union, SPD, FDP, Grüne und Linke in einer äußerst lebhaften Debatte mit zahlreichen Zwischenrufen, Zwischenfragen und einer Kurzintervention unisono zurück. Als Gauland sagte, „Menschen können illegal sein“, gab es sogar Buhrufe.
Selbst die Innenexperten der CDU/CSU-Fraktion, die die ursprüngliche, mittlerweile aber längst revidierte Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin scharf attackiert hatten, distanzierten sich entschieden von dem AfD-Antrag. Es sei „naiv und dumm“ zu glauben, alle Probleme „könnte man mit einer Maßnahme lösen“, sagte der frühere Bundespolizist Armin Schuster.
Der Sozialdemokrat Lars Castellucci unterstellte der AfD sogar, sie sei „in Wahrheit froh“, dass die Flüchtlinge gekommen seien, „damit Sie parteipolitischen Nutzen davon haben“.
Als wiederum der AfD-Abgeordnete Stefan Protschka seiner CDU-Kollegin Andrea Lindholz vorwarf, sie rede „Müll“, kam es zu lautstarken Protesten – wieder musste Claudia Roth als Sitzungsleiterin schlichten.
Noch turbulenter könnte es werden, wenn sich Union und SPD auf eine Neuauflage der Großen Koalition verständigen. Dann, so heißt es in der Union, könnte es zu einem „Wettlauf“ zwischen FDP und AfD um die Meinungsführerschaft in der Opposition kommen, die im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes nebeneinander sitzen. FDP-Chef Lindner, so glauben nicht wenige Unions-Parlamentarier, habe wohl auch deshalb die Jamaika-Sondierungen für gescheitert erklärt, um das liberale Profil schärfen und gleichzeitig den Kampf gegen die AfD um die gemäßigten und eher bürgerlichen Protestwähler aufnehmen zu können.