Stephan Holthoff-Pförtner ist ein gefragter Mann. Der 63-jährige Jurist mit dem grauen Lockenschopf saß neben Stefan Mappus, als dieser am 30. März 2012 eine Stunde und zwölf Minuten im EnBW-Untersuchungsausschuss „seine Wahrheit“ schilderte. „Nach bestem Wissen und Gewissen“ habe er gehandelt, als er für 4,7 Milliarden Euro 45 Prozent der EnBW-Aktien kaufte, sagte der Ex-Regierungschef von Baden-Württemberg dort. Aber auch, dass er „auf gar keinen Fall“ habe riskieren wollen, dass der Verkauf „an Baden-Württemberg vorbeigeht“.
In den Unterlagen klingt das etwas anders. Dort mailt der Deutschlandchef der Investmentbank Morgen Stanley und Mappus-Freund Dirk Notheis dem beratenden Anwalt: „Wenn Herr Mappus nur irgendwie begründen kann, dass er das Geschäft ohne Parlamentsvorbehalt abschließen kann, wird er dies tun.“
Das klingt nach Unbedingtheit, nach Eile, auch nach Unerschrockenheit?
Gut drei Monate später, am 11. Juli, rücken in Pforzheim die Strafermittler zur Hausdurchsuchung bei Familie Mappus an. In den Fernsehnachrichten sind Beamte zu sehen, wie sie bepackt mit roten Rucksäcken, grauen Taschen und braunen Kartons aus einem hoch umzäunten Flachbau kommen. Ende August lässt dann die Staatsanwaltschaft Computer und andere Geräte beschlagnahmen, nachdem bekannt geworden war, dass Mappus nach seinem Ausscheiden als Ministerpräsident dafür gesorgt hatte, dass die Festplatte seines Computers ausgebaut wurde.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart stand im Fall Mappus in der Kritik, zu lange gewartet zu haben. Der zur Aufklärung des EnBW-Kaufs eingesetzte Untersuchungsausschuss des Landtags erledigte dann den Job. Er förderte Details zutage, die zumindest einen ungewöhnlichen Hergang belegen. Nun wird gegen Stefan Mappus, aber auch gegen seine beiden einstigen Minister Willi Stächele und Helmut Rau sowie den Banker Dirk Notheis ermittelt.
„Unser Mandant hat den Tatbestand der Untreue nicht erfüllt.“
Stephan Holthoff-Pförtner, Anwalt von Stefan Mappus
Bei Untreue in einem besonders schweren Fall, wie sie Mappus als Anfangsverdacht vorgeworfen wird, drohen als Höchststrafe bis zu zehn Jahre Haft. Ob allerdings je Anklage erhoben wird, ist vollkommen offen. Und wenn sie erhoben wird, enden die Verfahren häufig mit einem Deal zwischen Klägern und Beklagten sowie mit Einstellung: Bei Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann gegen 3,2 Millionen Euro; bei Ex-Mannesmann-Chef Klaus Esser gegen 1,5 Millionen Euro; bei Helmut Kohl gegen 300 000 Mark.
„Ich habe vom ersten bis zum letzten Tag meiner Amtszeit alles in meiner Macht Stehende getan, um zum Wohle unseres Landes zu arbeiten“, beteuerte Stefan Mappus in der „Bild“-Zeitung. Sein Anwalt Holthoff-Pförtner flankierte: „Unser Mandant hat ausschließlich im Interesse des Landes Baden-Württemberg gehandelt. Er hat den Tatbestand der Untreue nicht erfüllt.“ Holthoff-Pförtner ist geschult in der Abgabe solcher Erklärungen. Vor mehr als zehn Jahren war er auch Helmut Kohls Anwalt in der Spendenaffäre. Später beriet er den Schiedsrichter Robert Hoyzer im Fußball-Wettskandal oder den Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland nach den Toten bei der Love-Parade. Allesamt knifflige Fälle. Besonders knifflig aber wird es immer dann, wenn Repräsentanten des Staates mit dem Untreuevorwurf belegt werden. Denn dort geht es um den Umgang mit Steuergeld und um einen Vertrauensverlust in die Politik insgesamt.
Nicht nur Holthoff-Pförtner, auch andere Strafverteidiger nennen den Paragrafen 266 Strafgesetzbuch indes einen „Gummiparagrafen“. Untreue ließe sich darüber nur schwer fassen. Besonders der Schadensnachweis ist unter Fachleuten extrem umstritten. Der Untreuetatbestand verlangt, dass mit Vorsatz falsch gehandelt wurde. Im Fall Mappus bedeutete dies, dass der frühere CDU-Regierungschef ganz bewusst das Land geschädigt haben muss, um sich vor der Landtagswahl als wirtschaftspolitischer Supermann darzustellen. Dass der Weg des Kaufs verfassungswidrig war, hat bereits der Staatsgerichtshof bestätigt. Dass der CDU-Chef aber darüber hinaus „das Risiko nahm“, etwa eines um rund 835 Millionen Euro zu hohen Preises, wie es in einer Mail heißt, nur um gut dazustehen – darum geht es. Stefan Mappus, dem Angela Merkel den Vorzug vor Günther Oettinger als Hüter der Baden-Württemberg-Bastion gab, erwähnte in unzähligen Interviews gern, wie sehr er Helmut Kohl bewundert. Ob die Ehrfurcht auch dem hemdsärmeligen Umgang mit Recht und Gesetz gilt, ermitteln nun die Staatsanwälte.
Späths Traumschiff-Affäre
Der Rücktritt von Baden-Württembergs Ministerpräsident Lothar Späth im Jahr 1991 war einer Affäre geschuldet. Der CDU-Regierungschef musste keineswegs nur gehen, weil er einmal auf dem Segelboot eines Unternehmerfreundes mitreiste und mit dessen Privatjet abgeholt wurde. Der Untersuchungsausschuss des Landtags listete – Monate nach dem Rücktritt – insgesamt 550 kostenlose Flugreisen Späths in seiner Funktion als Ministerpräsident auf, die mancher Firmen-Boss sogar als Betriebsausgabe absetzen wollte. 30 Mal nahm Späth das Angebot, den Privatflieger der Bosse zu nutzen, als Privatmann an. Darunter waren Firmen wie Mercedes, Bosch, Burda, SEL oder Fürstenberg. Er sei „geflogen mit dem, der da war“, meinte Späth. Die „Zeit“ urteilte damals: „Für Lothar Späth und einige seiner Minister war Politik die Fortsetzung der Wirtschaft mit anderen Mitteln.“ Späth betrieb keine Untreue, sondern eher „Übertreue“ gegenüber dem baden-württembergischen Steuergeld. Dass er damit in die Nähe der Korruption und Vorteilsgewährung geriet, dass auch kostenlose Flüge verdeckte Parteispenden sein können und die Unternehmensführer keineswegs „Freunde“ waren, sondern kühl kalkulierende Geschäftsleute, die später Förderkredite oder sonstige Gefälligkeiten bekamen – dies alles wollte Späth nicht sehen. Unrechtsbewusstsein? Keines. Lothar Späth sah sich als Opfer einer politischen Kampagne.
Kohls Spendenaffäre
Im Sommer 2000 staunte die Welt: Gegen den Altkanzler und CDU-Ehrenvorsitzenden Helmut Kohl war ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Untreue eingeleitet worden. Der Vorwurf: Kohl soll in seiner Eigenschaft als CDU-Vorsitzender zwischen 1993 und 1998 insgesamt 2,1 Millionen Mark in bar von anonymen Spendern zugesteckt bekommen haben. An den Kassenbüchern vorbei und nach eigenem Gutdünken verteilte er das Geld in der Partei. Damit, so die Kritiker, sei Regierungshandeln erkauft worden.
Vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages verweigerte Kohl hartnäckig die Aussage. Ansonsten: Gedächtnislücken oder Unkenntnis. Als das Ermittlungsverfahren gegen Zahlung von 300 000 Mark eingestellt wurde und das Aussageverweigerungsrecht nicht mehr galt, machte Kohl-Anwalt Stephan Holthoff-Pförtner Schweigerecht als Betroffener geltend. Das Landgericht Bonn beeilte sich zu betonen, dass die Geldauflage keineswegs ein Schuldeingeständnis bedeute. Kohl wütete im Ausschuss über die „wohl einzigartigste Diffamierungskampagne in der Geschichte der Bundesrepublik“ und sah darin einen „Vernichtungsfeldzug“ seiner Gegner. Zu den Namen der zahlreichen Spender schweigt er bis heute.
Kanthers Schwarzgeldaffäre
Eine Randerscheinung im CDU-Spendenskandal war die Affäre um den früheren Bundesinnenminister Manfred Kanther. Er war Chef der hessischen CDU. 1983 deponierte der dortige CDU-Landesverband mehr als 22 Millionen Mark auf einem anonymen Schweizer Konto. Später wurde das Geld ins Fürstentum Liechtenstein in eine Stiftung „Zaunkönig“ transferiert. Maßgeblich und federführend war Kanther. Ohne die Gremien der Partei zu befassen, ließ er in der Eidgenossenschaft „schwarze Kassen“ anlegen.
2005 wurde Kanther wegen des Verdachts auf Untreue angeklagt. Das Landgericht Wiesbaden urteilte schließlich in zweiter Instanz: Untreue zum Nachteil der hessischen CDU. Kanther kam mit der Zahlung von 54 000 Euro davon.
Positiv wurde gesehen, dass Kanther sich nicht persönlich bereichert habe und, vielleicht anders als Kohl, das Geld aus den schwarzen Kassen nicht nach Willkür eingesetzt und sich ein eigenes Machtsystem zementiert habe. Am Ende des Prozesses wütete Kanther über eine „infame Medienkampagne“ gegen ihn.
Becks Ring-Affäre
Untreue lautet aktuell auch der vage Vorwurf in der Affäre um den Nürburgring in Rheinland-Pfalz. Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) und seine SPD-Alleinregierung hatten vor einigen Jahren rund 330 Millionen Euro in den Ausbau des Nürburgrings in eine Art Rennstrecke samt „Erlebniswelt“ mit Einkaufsboulevard und Achterbahn gesteckt. Die Investition werde sich rasch refinanzieren, hieß es damals. Gutachten wurden vorgelegt. Doch es kamen viel weniger Besucher als erwartet.
Jetzt ist die Nürburgring GmbH pleite. Regierungschef Beck räumte Fehler und Fehleinschätzungen ein („Es tut mir mehr als nur leid“). Er habe der strukturarmen Eifel helfen wollen und den optimistischen Gutachten geglaubt. Die CDU sieht bereits den Tatbestand der Untreue tangiert. Das Projekt sei politisch gewollt gewesen. Obwohl klar gewesen sei, dass das überdimensionierte Konzept sich kaum wird finanzieren können, habe man Landesgeld eingesetzt. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf – allerdings gegen Manager der Förderbank wegen mangelhafter Bonitätsprüfung. Einen Misstrauensantrag Ende August wegen der Nürburgring-Pleite überstand Beck, Fehler gab er zu, einen Rücktritt schloss er allerdings aus.
Was das Gesetzbuch sagt
Was ist Untreue?
Paragraf 266, Absatz 1 des Strafgesetzbuches behandelt den Tatbestand der Untreue. Er wird in Deutschland als reines Vermögens-delikt betrachtet und stammt noch aus der Kaiserzeit, als er nur für Vormünder, Versteigerer und Kuratoren galt. In der Nazizeit wird der Paragraf aufgeweicht, indem Begriffe wie „gravierende Pflichtverletzung“, „Missbrauch von Befugnissen“ oder „Verletzung von Treueverhältnissen“ eingefügt werden.
Wie lautet Paragraf 266 StGB?
„Wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, missbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Wann ist die Rechtsprechung eindeutig?
Der Paragraf 266 Strafgesetzbuch greift, wenn ein Firmenvorstand seiner Aufsichtspflicht über ein Firmenvermögen nicht nachkommt. Wenn bewiesen werden kann, dass er dies vorsätzlich getan hat und der Firma ein Schaden entstanden ist, kann er dafür verurteilt werden. Auch ein Testamentsvollstrecker, der Geld abzwackt für eigene Zwecke und den Erben vorenthält, ist ein klassischer Untreue-Fall nach Paragraf 266.
Ist das Gesetz ausreichend?
Bislang betrachtet der Paragraf 266 nur einen eventuellen Vermögensschaden. Durch Schmiergeldzahlungen entstehen aber oft nur Vorteile für die Firma oder die Partei. Beispiel VW-Vorstand Peter Hartz: Er hatte Schmiergeldzahlungen und Lustreisen an Betriebsräte gedeckt und wurde wegen Untreue angeklagt. Hat er VW dadurch geschadet? Den Betriebsräten gefielen die Prostituierten-Treffs, sie waren motivierte VW-Mitarbeiter. Der Schaden musste von den Richtern auch auf öffentlichen Druck regelrecht konstruiert werden: Hartz bekam zwei Jahre auf Bewährung und 500 000 Euro Strafe.
Warum sind „politische Verfahren“ anders?
Seit Jahren häufen sich die Fälle, in denen Politi- ker der Untreue geziehen werden, in denen es um dubiose Geldgeschäfte aller Art geht. In vielen politischen Untreuefällen ist es schwer, entstandenen Schaden nachzuweisen, wie die Spendenaffäre um Helmut Kohl zeigte. Verletzungen der demokratischen Gepflogenheiten oder Pflichtverletzungen kann der Paragraf 266 eigentlich nicht fassen. Viele Juristen pochen deshalb auf eine Reform des 266. Häufig wird Klage geführt, wie unscharf dieser Paragraf ist. Den Versuch der Untreue beispielsweise hat der Gesetzgeber nicht unter Strafe gestellt. Das könnte nachgebessert werden.
Text: dpa