Hinter ihm das Inferno, vor ihm die unendliche Leere. Alexander Gerst wird in seinen Sitz in der Sojus-Rakete gepresst, deren 26 Millionen PS voll aufgedreht sind. Seine Augen schmerzen, sein Gesicht ist platt gedrückt, das Dreifache des Körpergewichts wirkt auf ihn und seine beiden Astronautenkollegen ein. Hinter ihm röhrt der Antrieb der Rakete in ohrenbetäubender Lautstärke.
Doch all das spielt für Gerst keine Rolle. Dieser Höllenritt ist der Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Karriere, darauf hat er sein ganzes Leben hingearbeitet. Seit der Großvater Alexanders Namen mit Amateurfunk zum Mond schickte und der fünfjährige Bub drei Stunden später das zurückkommende Signal vernahm, war das hier sein Lebenstraum: die Reise ins All.
An diesem Mittwoch im Mai 2014 ist es so weit, die Rakete ist schon hunderte Kilometer von der Erde entfernt, die Crew ist im Weltall. Gerst neigt den Kopf, so gut es geht, und sieht aus dem Fenster. Der erste Gedanke, der ihm in diesem Moment durch den Kopf geht, ist nicht unbedingt das, was man erwarten würde: „Wie schön, die Erde ist wirklich rund“, denkt er sich. Nur das.
Seit ein paar Tagen sind Anekdoten wie diese wieder gefragt. Seit klar ist, dass Alexander Gerst für eine weitere Mission ins Weltall zurückkehren wird. Dieses Mal sogar als Kommandant der internationalen Raumstation ISS. Wer mit ihm sprechen will, braucht viel Geduld. Fernsehen, Radio, Trainingseinheiten – überall wird jetzt wieder seine Anwesenheit verlangt. Hat man den 40-Jährigen dann am Telefon, wirkt Gerst ruhig und freundlich. Und auch, wenn es wenig originell klingt: Er ist bodenständig, kein bisschen abgehoben. Gerst ist kein Selbstdarsteller, er hat eine Mission. Auch, wenn er gerade auf der Erde weilt.
In zwei Jahren soll Gerst erneut ins All starten, voraussichtlich von Mai bis November 2018. Dann wird er der erste deutsche Astronaut sein, der auf der Raumstation ISS das Kommando übernimmt. Drei Monate lang wird Gerst eine Vorrichtung leiten, die er selbst als „komplexeste Maschine in der Geschichte der Menschheit“ bezeichnet. Die in 400 Kilometern Höhe um die Erde rast. So schnell, dass die Besatzungsmitglieder alle 90 Minuten einen Sonnenaufgang erleben. In dem die Mitglieder dutzende Experimente betreuen, die in der Schwerelosigkeit durchgeführt werden. Zum Beispiel, wie die Wurzeln von Pflanzen wachsen, wenn man ihnen den Sinn für oben und unten nimmt.
Wie ist das so, Deutschlands Mann im All zu sein? Gerst nennt es eine große Ehre, so viel Verantwortung in seine Hände gelegt zu bekommen. Er sagt sehr bescheidene Sätze. Dass über 100 000 Menschen direkt und indirekt an der ISS mitgearbeitet haben. Dass er alle Auszeichnungen, wie das Bundesverdienstkreuz, als Stellvertreter für das gemeinsame Werk entgegennehme. Auch für den Mann, der seinen Raumanzug genäht hat. Solche Sätze eben.
Dass er sich vor der ersten Mission gegen fast 9000 Bewerber für das Astronautenprogramm durchsetzen musste? Auf solche Dinge kommt Gerst von sich aus nicht zu sprechen. Auch nicht darauf, dass er als Geophysiker und Vulkanologe noch einmal eine ganze Reihe von Ausbildungen absolvieren musste. Ausbildungen, die für ein paar Lebensläufe gereicht hätten. Astronauten sind Mechaniker, Sanitäter, Biologen, Kommunikationsexperten. Alles in einem. Gerst und seine Kollegen müssen topfit und psychisch belastbar sein, in den brenzligsten Situationen einen kühlen Kopf bewahren. So steht es auf den Jobbeschreibungen der Raumfahrtbehörden European Space Agency (Esa) und Nasa. Schließlich ist die Besatzung auf sich allein gestellt, trotz dauerndem Kontakt mit den verschiedenen Bodenstationen.
Bei einem unlösbaren Krankheitsfall bleibt nur die Reise mit der Rettungskapsel nach unten. Und auch die birgt Gefahren. „Sie können sich ja vorstellen, wie wenig witzig das sein muss, wenn man mit einem Blinddarmdurchbruch in der Rettungskapsel sitzt und das Fünffache des Körpergewichts auf einen runterdrückt“, hat er dazu in einem Interview gesagt.
Und dann sind da die schönen Dinge, die man nie mehr vergisst: der Blick auf die Sterne, die Milchstraße, die Erde. Die hauchdünne Atmosphäre, die sich wie ein Seidentuch um den Planeten legt. Es sind Erfahrungen, die Gerst geprägt haben. Weil man, wie er sagt, sehr klein und bescheiden werde, wenn man die Erde von oben sieht. Und weil man in diesen Momenten auch erkenne, „wie zerbrechlich unser kleiner Blauer Planet ist“.
Gerst weiß, dass sich viele Menschen das alles nicht vorstellen können. Darum will er sie an seiner Mission teilhaben lassen. Über den Kurznachrichtendienst Twitter hat „Astro-Alex“ im Sommer 2014 fast täglich kleine Anekdoten seiner Reise ins All verbreitet. Kurz vor seinem Rückflug zur Erde scherzt er: „Ich werde die Rückwärtssaltos beim Zähneputzen vermissen.
“ Und er schickt Bilder – faszinierende, berührende, erschreckende Bilder. Vom Sonnenaufgang aus dem Orbit, von Vulkanen in den Anden, von den Explosionen über dem Gazastreifen, die man vom All aus sehen kann. Gerst ist ein Botschafter und Sympathieträger, wie ihn die Raumfahrt lange nicht hatte. Einer, der auf Podiumsdiskussionen fast wie ein Schuljunge wirkt, der seine Zuhörer am Ärmel packen und mitnehmen möchte auf seine Reise. Der jedem zeigen will, was man lernen kann in der Endlosigkeit des Weltalls.
Schon vor seiner ersten Reise ins All haben ihn Kamerateams bei den Vorbereitungen begleitet. Er lernte Russisch in weniger als drei Monaten, absolvierte im Space Center in Houston dutzende Tauchgänge im ISS-Nachbau. Wurde in Zentrifugen umhergeschleudert, harrte wochenlang beim Überlebenstraining in der eiskalten Einöde Russlands aus.
Nach sechs Monaten auf der ISS hatte er dann, bei allem Abenteurergeist und Entdeckerdrang, bei aller umwerfenden Aussicht, auch mal genug vom All. „Ich habe mich am Ende nach ganz einfachen Dingen gesehnt. Zum Beispiel, zu spüren, wie es ist, wenn man sich in einen Sessel fallen lässt. Oder sich im Bett herumzudrehen.“ Im All sei man dauernd schwerelos, dauernd entspannt. Da merke man erst, wie schön es sich anfühlen kann, wenn man in den Polstern versinkt.
Im November 2014 rast Gerst mit seinen Kollegen in der kleinen Sojus-Kapsel zurück zur Erde – und ist dort plötzlich so etwas wie ein Popstar. Zur Willkommensparty in seiner Heimatstadt Künzelsau kommen rund 10 000 Menschen, Gerst wird Ehrenbürger.
Er ist sich bewusst, dass er als Weltraumfahrer ein großes Privileg genießt. Dass er derjenige ist, der den interessantesten Job übernimmt, der bei den zig Milliarden Euro Forschungsgeldern für die Raumfahrt entsteht. Über eines ist Gerst dennoch froh: „Mit meinen Freunden gibt es auch Abende, an denen das Wort Weltraum kein einziges Mal fällt. Das brauche ich als Ausgleich.“
Die Vorbereitungen auf sein neues Abenteuer haben begonnen. Für seinen Job als Kommandant muss er lernen, eine Sojus-Rakete und deren Kapsel zu steuern. Dafür wird er voraussichtlich bis Oktober öfter im Trainingslager sein. Und bis zum Missionsstart wieder rund um den Erdball reisen – Köln, Moskau und Houston. Wenn es im Mai 2018 wieder mit der Trägerrakete Richtung Himmel geht, wird er wieder Speisen in Breiform zu sich nehmen und komplett auf Alkohol verzichten müssen. Zweieinhalb Stunden am Tag Sport treiben, um dem Muskelschwund in der Schwerelosigkeit zu entgehen. Er wird kaum Privatsphäre besitzen, mit fünf anderen Astronauten auf engstem Raum forschen und die ISS warten. Und er wird wieder am Arbeitsplatz mit dem besten Ausblick der Welt sein.