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LICHTENFELS: Von Hotspot und schwarzer Kammer

LICHTENFELS

Von Hotspot und schwarzer Kammer

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    Erinnerungen: Helga Jaud sieht sich Fotos aus der Kindheit an. Sie kam als Flüchtling nach Lichtenfels.
    Erinnerungen: Helga Jaud sieht sich Fotos aus der Kindheit an. Sie kam als Flüchtling nach Lichtenfels. Foto: Till Mayer

    Manchmal gibt es Helga Jaud einen richtigen Stich, wenn sie das Rathaus passiert. Fremdsprachige Wortfetzen hört sie im Vorbeigehen. Sieht nicht selten in traurige Gesichter. Den kostenlosen Internet-Hotspot im Zentrum der Stadt nutzen Flüchtlinge, um mit der Heimat in Verbindung zu bleiben. Manchmal sind es schlimme Nachrichten, die verkraftet werden müssen. Dann tut es gut, eine vertraute Stimme zu hören. Aber immer schmerzt es, wenn nah stehende Mensch so weit entfernt sind.

    „Mich schmerzt es einfach, wenn ich daran denke, was diese Menschen alles durchmachen mussten.“

    Helga Jaud

    Helga Jaud, Jahrgang 1938, kam auch als Flüchtling nach Lichtenfels. Mit einem Smartphone im weltweiten Internet zu surfen, das hätten damals, im Jahr 1945, die Menschen unglaublich gefunden. Die Angst vor Krieg und Gewalt dagegen: damals wie heute völlig gleich. Das hat die 77-Jährige nicht vergessen: „Mich schmerzt es einfach, wenn ich daran denke, was diese Menschen alles durchmachen mussten.“

    Sieben Jahre war die kleine Helga nach Kriegsende alt. Ein dürres, blondes Mädchen mit leuchtenden, blauen Augen. Ihre Schwester Christine trug Windeln und konnte noch nicht einmal laufen. Dass sie es mit ihrer Mutter lebend bis nach Lichtenfels geschafft hatten, war keine Selbstverständlichkeit. Wie hunderttausende andere Vertriebene hatten sie eine Flucht-Odyssee aus Oberschlesien hinter sich.

    Im Sammellager Oelsnitz husteten sich die Kinder die Seele aus dem Leib. „Wir hatten furchtbaren Keuchhusten. In der Baracke beschwerten sich tatsächlich Mitbewohner, dass wir Kinder so laut husten mussten. Es war furchbar für mich.“ Dann folgte ein Aufenthalt im nächsten Sammellager.

    Weil zwei Onkel noch während des Kriegs bei Lichtenfels arbeiteten und Kontakte hatten, landet die ganze Familie schließlich in der Korbstadt.

    Wie ein kleines Wunder

    Zuerst provisorisch in einem Zimmer in der Langheimer Straße. „Eine kinderreiche Familie nahm uns dort kurzfristig auf, obwohl sie selbst gar keinen Platz hatten“, erzählt Helga Jaud. Im Nachbarhaus werden Mutter und Kinder sogar kurzerhand mit einem Mittagessen mitversorgt. „Das war wie ein kleines Wunder für uns. Keiner hatte doch was. Wenn ich ehrlich bin, das beeindruckt mich immer noch. So ganz anders als die Futterneider, die heute gegen Flüchtlinge schimpfen, obwohl sie doch gar nichts opfern müssen“, meint Helga Jaud.

    Die guten Erfahrungen verfliegen schnell. Das Flüchtlingsamt weist die oberschlesische Familie in ein Haus in der Mühlgasse ein. Dort empfangen sie die Eigentümer, eine ältere Dame mit ihrer Tochter, alles andere als mit offenem Armen. „Da mussten schon der spätere Bürgermeister Johannes Unrein und ein Polizist anrücken, damit wir Einlass fanden“, erinnert sich die 77-Jährige.

    Eisige Stimmung zu Beginn

    Es kam eine harte Zeit in einer fensterlosen Kammer. „Unter dem Zimmer befand sich eine Waschküche. An besonders kalten Wintertagen waren die Wände regelrecht vereist. Die ,schwarze Kammer‘ hießen die paar Quadratmeter nur“, so Helga Jaud. Eisig auch die Stimmung im Haus. „Aber, und das ist das Schöne: Es hat sich Schritt für Schritt geändert. Weil Vertrauen kam. Am Schluss hatten wir zwei kleine, aber ordentliche Zimmer unter dem Dach, lebten zivilisiert und freundlich miteinander.“

    Aber die Zeit war dennoch hart. Die Mutter geht putzen, um die Kinder zu ernähren. Die kleine Helga muss ihr dabei helfen. Auch im Haushalt. Das stille Schwesterchen braucht viel Zuwendung. Schließlich kam dann der Stiefvater. Er ist für die Familie keine Stütze, im Gegenteil.

    Im Gegensatz zur Mutter verkraftete er den Verlust seiner Heimat nicht. Dort hatte er eine eigene Bäckerei in Gleiwitz, war ein angesehner Bürger. Alles verloren. „Manchmal bin ich mit meinem Stiefvater bis tief in die Nacht den Main entlang gelaufen. Er hatte immer wieder gedroht, ins Wasser zu gehen. Ich hatte riesige Angst, dass er es tut“, erinnert sich die heute 77-Jährige. Oft saß der Vater stundenlang in der Wärmestube für Flüchtlinge im Hotel „Anker“. „Dort politisierte er gerne, anstatt zu arbeiten“, meint Helga Jaud. Heute ist dort die Eisdiele Dolomiti zu finden, mittig in der Bahnhofstraße.

    Appell

    Kürzlich kam ihr dort eine Flüchtlingsfamilie aus Syrien entgegen, die sie vom Sehen kennt. Ein kleiner Bub mit großen Zahnlücken lächelt ihr entgegen. „Ich habe durch Flucht und Krieg meine Kindheit verloren. Dieser kleine Junge hat ein Recht darauf, Kind zu sein. Ich denke, das sollte uns allen etwas wert sein“, sagt die 77-Jährige, die als Flüchtling nach Lichtenfels kam und mit ihrem Mann ein eigenes Taxiunternehmen aufbaute. Helga Jaud ist eine Bereicherung für ihre Stadt, auch wenn das so mancher Lichtenfelser einmal anders gesehen hatte: Als ihnen ein dürres, blondes Mädchen mit blauen Augen als ein Eindringling galt.

    Flucht: Daten und Fakten

    Die Quittung für Machtstreben, Kriegsverbrechen und nationalsozialistische Gewaltherrschaft war hart – und sie traf viele Unschuldige: Für zwölf bis 14 Millionen Menschen bedeutete sie Flucht und Vertreibung

    aus den damaligen deutschen Ostgebieten

    sowie aus Mittel- und Osteuropa. In den damaligen Landkreisen Lichtenfels und Staffelstein befanden sich in den Jahren 1945/1946 hauptsächlich Flüchtlinge und Evakuierte aus den deutschen Ostgebieten. Im Oktober 1946 lebten im Landkreis Lichtenfels 12 024 und im Landkreis Staffelstein 7246 Flüchtlinge. Durch Zuweisungen in Privatunterkünfte und teilweise auch in Baracken fanden sie zumindest ein Dach über den Kopf. Oft vergingen aber über zehn Jahre, bis Familien endlich eine eigene Wohnung oder ein Haus beziehen konnten. Heute werfen neue Kriege ihre Schatten bis nach Lichtenfels. Aber auch katastrophale wirtschaftliche Verhältnisse und mehr und mehr auch der durch die Industrienationen verursachte Klimawandel, zwingen Menschen zum Beispiel in Afrika dazu, ihre Heimat zu verlassen. Derzeit leben im Landkreis Lichtenfels 470 Menschen auf der Flucht.

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