Ruth kam 1923 zur Welt; sie war die Jugendfreundin von Ludwig Pfeuffer, der sich nach seiner Emigration Jehuda Amichai nannte und zum bedeutendsten Dichter Israels wurde. In dem Roman „Nicht von jetzt, nicht von hier“ hat er ihr ein literarisches Denkmal gesetzt.
Ruth war körperbehindert; 1934 kam sie mit ihrem Fahrrad in der Ottostraße zwischen zwei Autos, wobei ein Kotflügel ihr ein Bein abtrennte. Deshalb konnte sie im Dritten Reich nicht wie der Rest ihrer Familie in die USA, nach Palästina oder Argentinien auswandern, wo nur gesunde Menschen aufgenommen wurden.
Im Januar 1939 emigrierte die 15-Jährige nach Amsterdam. Ein Brief, den sei ein Jahr später an ihre Stiefschwester Else in Argentinien schickte, ist erhalten geblieben. „In politischer Hinsicht wird es immer ungemütlicher“, schrieb sie. „Man kommt aus der Aufregung gar nicht mehr heraus. Von den Eltern höre ich sehr unregelmäßig.“ Am 10. Mai 1940 marschierten deutsche Truppen in Holland ein.
Ruth Hanover gehörte zu den etwa 30 000 jüdischen Emigranten, die in einem europäischen Auswanderungsland von der deutschen Expansion eingeholt wurden. Sie geriet in Holland in die Räder der NS-Vernichtungsmaschinerie und wurde am 18. Mai 1943 in das Vernichtungslager Sobibor verschleppt.
In seinem Roman schilderte Jehuda Amichai die Szene, „als sie Ruth zum Krematorium trieben“: „Ruth, die die Hilfe des Himmels gebraucht hätte, muss die Hilfe eines neben ihr Gehenden in Anspruch genommen haben, während sie auf ihrem einen Fuß hüpfte, denn die Krücken hatte man ihr wohl schon weggenommen.“
Auch Mitglieder der Familie Seligsberger, der in Würzburg ein bekanntes Antiquitäten- und Möbelgeschäft gehörte, wanderten nach Holland aus. Siegmund Seligsberger hatte die Firma zunächst mit seinen Geschwistern geführt: Simon starb 1931, Ernestine zog sich aus dem Geschäft zurück und starb 1939. Er brachte das Unternehmen laut Würzburger General-Anzeiger „auf eine derartige Höhe, dass sie weit über Bayern Grenzen hinaus, nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland, besonders in Holland, als eines der besten deutschen Antiquitätengeschäfte“ galt. Auch das englische Königshaus soll zu den Kunden gehört haben. 1933 hatte die Firma 27 Angestellte
Die Landesleitung Mainfranken der nationalsozialistischen „Reichskammer der bildenden Künste“ bezeichnete das Unternehmen 1937 als drittgrößtes in Deutschland, durch das „Würzburg einen guten Namen als Stadt des Kunsthandels bekam und dadurch viele Fremde, insbesondere Ausländer, anzog.“ Eine realistische Einschätzung, die aus dieser Ecke überraschte, aber im Zusammenhang mit dem erpressten Verkauf an einen Nichtjuden abgegeben wurde.
Die Nazis schlossen Sigmund Seligsberger im Januar 1937 aus der „Reichskammer für bildende Künste“ aus und sprachen das Verbot der „Verbreitung von Kulturgut“ aus. Im Mai 1938 zogen Seligsberger und seine Frau Sara nach Berlin. 1939 emigrierten beide nach Holland.
Der Sohn Ernst war 1939 20 Jahre alt. Er hatte die Oberrealschule, das heutige Röntgen-Gymnasium, besucht. Im Oktober 1935 war er in die Schweiz gegangen und hatte dort wahrscheinlich in einem Internat gewohnt; sein Berufsziel war Sportlehrer. Ab 1939 lebte auch er in Holland.
„Man kommt aus der Aufregung gar nicht mehr heraus. Von den Eltern höre ich sehr unregelmäßig“
Ruth Hanover, Würzburger Emigrantin in Holland
Sehr spät, wahrscheinlich erst 1938, entschlossen sich seine Eltern und er, in die USA auszuwandern. Da jedoch jährlich nur eine bestimmte Zahl von Einwanderern akzeptiert wurde, zögerte sich die Emigration immer weiter hinaus.
Am 21. Februar 1940 schrieb Ernst Seligsberger seinem Schulfreund Werner Kleemann aus der Oberrealschule, der schon nach Amerika ausgewandert war: „Mein lieber Werner! Wir warten täglich auf die erste Vorladung beim amerikanischen Konsulat; man sagt uns nun schon seit Januar, dass wir nun dran sind, aber die Herren hier am Konsulat lassen sich Zeit! Die haben ja auch keine Sorgen und um unsere kümmern sie sich wenig. Doch ich rechne bestimmt damit, dass wir bis Ende April reisen können.“
Ernst Seligsbergers Auswanderung ist, ebenso wie die seiner Eltern, nicht mehr zustande gekommen. Er wurde in Auschwitz ermordet. Seine Eltern befanden sich wahrscheinlich in jenem Zug, der auch Ruth Hanover nach Sobibor brachte, und sie fanden dasselbe Ende wie sie.
Die Stolpersteine für Sara, Sigmund und Ernst Seligsberger werden am Montag um 10.30 Uhr vor dem Haus Johanniterplatz 2 verlegt, der für Ruth Hanover um 13 Uhr in der St.-Benedikt-Straße 20.