Viele Erwachsene litten; sie hatten bessere Zeiten erlebt. Doch für die Kinder im großen Vertriebenenlager am Galgenberg bedeutete von 1948 bis 1951 das Leben in den 32 engen Baracken und auf den unwirtlichen Plätzen dazwischen nichts Ungewöhnliches; die wenigsten konnten sich an feste Häuser und große Wohnungen erinnern.
„Wenn wir die Hausaufgaben erledigt hatten, haben wir gespielt,“ erinnert sich Irma Zeckel (76). „Wir sind rumgelaufen, sind Rad gefahren und haben das Lager unsicher gemacht.“
Irma war acht Jahre alt, als sie im April 1948 mit der zwei Jahre älteren Schwester, Bruder, Mutter und Großvater aus dem Sudentenland, das inzwischen zur kommunistisch regierten Tschechoslowakei gehörte, nach Westdeutschland kam. Der Vater war 1946 in einem tschechischen Gefängnis gestorben.
An Ostern 1949 ging Irma im Lager zur feierlichen Erstkommunion. „Wir hatten weiße Kleider an“, sagt sie. „Die hatten die Eltern irgendwo besorgt.“ Irma trug das Kleid ihrer älteren Schwester Herta (jetzt Herta Linzmeier), die schon an Weihnachten 1948 die erste heilige Kommunion empfangen hatte.
Versäumtes wurde nachgeholt
Es galt auch auf dem Gebiet der Religion, am Galgenberg möglichst schnell Versäumtes nachzuholen, das in Durchgangslagern wie Furth im Wald und Mellrichstadt nicht hatte erledigt werden können.
„Es war eigentlich eine schöne Zeit“, resümiert Irma Zeckel. „Ein Kind gewöhnt sich an alles“, ergänzt ihre Schwester Herta Linzmeier.
Irma Zeckel erinnert sich daran, dass sie die Enge als nicht besonders störend empfand. Allerdings wohnte sie mit ihren Angehörigen zeitweise in einer Baracke, in der auch eine Familie mit einer kranken Tochter lebte, die Epilepsie hatte: „Sie bekam nachts immer Anfälle. Das war für uns wohl das Schlimmste.“
Kinder stellten einen beträchtlichen Prozentsatz der Galgenberg-Bewohner. Im Januar 1949 wurden 16 Säuglinge, 47 Drei- bis Sechsjährige und 151 Buben und Mädchen im schulpflichtigen Alter gezählt.
Da das Lager außerhalb der Stadt lag und über zahlreiche Einrichtungen für das tägliche Leben verfügte, blieben die Flüchtlingskinder und ihre Eltern meist unter sich. Die Frage der Integration in die Welt der Einheimischen stellte sich daher für sie nicht; sie wurde erst virulent, wenn ein Erwachsener außerhalb arbeitete oder nur schwer eine Stelle fand, weil er Flüchtling war, und natürlich nachdem die Lagerbewohner im Herbst 1951 in die Zellerau umgezogen waren.
Die Regierung von Unterfranken hatte das Lager am Galgenberg im Juni 1948 eröffnet. Rund 1100 Menschen lebten hier bis zum Herbst 1951; die meisten stammten aus dem Sudetenland. Für die Buben und Mädchen stand seit Herbst 1948 in einer der Baracken eine Volksschule bereit; zunächst unterrichteten zwei Lehrer alle Jahrgänge bis zur achten Klasse. Bruno Reichert, ein strenger Mann, achtete auf penible Sauberkeit. „Er hat immer hinter die Ohren und auf die Hände geschaut, ob wir gewaschen sind“, erinnert sich Herta Linzmeier.
Schulen wurden eingerichtet
Auch eine Berufsschule nahm bald ihren Betrieb auf. Für die Kleinen gab es einen im Januar 1949 eröffneten Kindergarten, den etwa 50 Buben und Mädchen besuchten, für alle wenig später einen Spielplatz und ein Sportfeld. Hier wurden die Angehörigen des Lagersportvereins, der sich dem Bayerischen Sportbund angeschlossen hatte und in der Fußball-Verbandsliga (C-Klasse) kickte, aktiv; er verfügte über eine erste Mannschaft und eine Jugendmannschaft.
Am 16. und 17. Juli 1949 fand im Lager ein Sport- und Volksfest mit Fußballspielen und leichtathletischen Wettkämpfen statt. Außerdem gab es Volkstänze, Kinderbelustigung und abends am zweiten Tag eine Tanzveranstaltung mit Tombola, bei der die Siegerpreise überreicht wurden.
„Wir hatten auch Theatergruppen und haben Märchen einstudiert, zum Beispiel Schneewittchen und Rumpelstilzchen, und dann auch Krippenspiele“, blickt Herta Linzmeier zurück. „Wir waren damit sogar außerhalb zu Gast und haben in Gerbrunn oder bei den Mariannhillern gespielt.“
Zu ausgefüllten Stunden trugen nicht zuletzt die Gruppentreffen bei, die die 16-jährige Therese Eich für Mädchen organisierte. Die junge Frau, die nicht im Lager lebte, absolvierte eine Lehre in einer Textilhandlung und leitete bereits eine Jugendgruppe in der katholischen Pfarrei St. Barbara, die nicht weit vom Flüchtlingslager entfernt lag.
Nun kam eine weitere Aufgabe hinzu: „Samstag bin ich nach meinem Dienst zum Galgenberg getigert und dann haben wir dort Gruppe gehalten“, sagt sie. „Es war eine schöne Gemeinschaft.“ Else Hollenbach gehörte der Gruppe an: „Es gab Volkstänze und Ausflüge. Im Fasching haben wir uns maskiert. Im Vorraum der Küchenbaracke hat die Musik für uns Kinder gespielt und da waren wir sehr fröhlich und ausgelassen.“ Zwischen der Gruppenleiterin und den Mädchen entwickelte sich eine so enge Beziehung, dass sie fast sieben Jahrzehnte später noch Bestand hat. Auch die Jungen des Lagers vergnügten sich in ihrer Freizeit in einer ähnlichen Gruppe.
Gottesdienste wurden gehalten
Als Seelsorger für die katholischen Flüchtlinge fungierte der 1913 geborene Mariannhiller-Pater Edmar Sommerreißer. Als dieser im Herbst 1949 ins damalige Rhodesien in die Mission ging, nahm der gleichaltrige Diözesanvertriebenenseelsorger Anton Fritsch seine Stelle ein. Auch eine Gemeindereferentin – damals sagte man Seelsorgehelferin – versah ihren Dienst am Galgenberg.
Der evangelischen Gläubigen nahm sich ein Pfarrer von St. Johannis an. Gottesdienste wurden an Sonn- und Feiertagen in der Schulbaracke gehalten; die Gläubigen mussten sich in die kleinen Schulbänke quetschen.
Wie überall in Bayern spielte die Religion nach dem Krieg eine große Rolle und gab den Menschen Halt. Das galt auch für die Bewohner des Galgenbergs. Auf einem Foto vom Fronleichnamsfest 1950 nehmen weiß gekleidete Mädchen mit Blumenkränzen im Haar an der Prozession teil und nichts deutet darauf hin, dass sie durch eine kleine Barackenstadt mit primitiven Unterkünften ziehen, zwischen denen vier Altäre errichtet waren.
Gelegentlich führte das jahrelange Leben auf engstem Raum zu Konflikten. Die Baracken dienten in erster Linie als Schlafstätten, in denen drangvolle Enge herrschte und jeder Bewohner weniger als vier Quadratmeter zum Leben hatte, wovon das Bett noch abzuziehen war. Die Tatsache, dass rund 15 Eltern und Kinder, aber auch Alleinstehende, in den „Stuben“ auf 56 Quadratmetern zusammenlebten, schuf Probleme, vor allem wenn sich unter den Familien auch Alleinlebende befanden.
Kaum Privatsphäre
Am 3. Dezember 1949 veröffentlichte die Vertriebenen-Zeitung „Die Brücke“ einen äußerst kritischen Bericht über das Lager, wobei vor allem die „Stuben“ im Mittelpunkt standen. Frauen und Mütter, Kinder und Jugendliche seien am schwersten davon betroffen, Familienglück sei „ausgerottet“, hieß es in dem Text.
„Der Mensch, der ohne jede private Lebenssphäre sein muss, verliert alle Bindungen und Hemmungen!“, klagte die Autorin und fragte: „Haben alle verantwortlichen Menschen schon einmal darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn alle Lebensakte, die intim und privat bleiben müssen, in solcher Umgebung kein Geheimnis mehr sind?“
Als sich der Vater von zwei Kindern über das lockere Sexualleben von zwei ledigen Mitbewohnerinnen einer „Stube“ bei der Lagerverwaltung beschwerte und um die Unterbringung seiner Familie in einer anderen Baracke bat, konnte diesem Wunsch wegen Platzmangels nicht entsprochen werden. Allerdings wurden später zwei sogenannte „Frauenbaracken“ für alleinstehende Frauen zur Verfügung gestellt.
Das Lager verfügte über eine beträchtliche Infrastruktur.
Es gab einen hauptamtlich angestellten Lagerarzt und mehrere Krankenzimmer in der „Revierbaracke“, außerdem einen Friseursalon, eine Küchenbaracke samt Kantine, einen Raum für Heimarbeiter, eine Schreinerei und Schlosserei, dazu eine Leihbücherei samt Lesesaal, eine Baracke zum Wäschetrocknen, eine Fleischerei, einen kleinen Laden für den täglichen Bedarf, eine Schusterei und einen Tabakwarenladen. Erwachsene betätigten sich im Schachclub, dem Männerchor und einem kleinen Orchester.
Am Hubland war so ein kleiner Stadtteil mit eigener Infrastruktur entstanden. Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass er nicht mehr lange Bestand haben würde.
Nächste Folge: Die Amerikaner, die im April 1945 den ehemaligen Fliegerhorst am Hubland übernommen hatten, leisten den benachbarten Vertriebenen vielfältige Hilfe.