Eigentlich ist Hubert Aiwanger derjenige, der gerne Verbalschellen verteilt. So wettert die derbe Vox Populi, die Stimme des Volkes, als die sich Aiwanger inszeniert, gegen alles, was grün, woke und mitunter auch Regierungspartner in Bayern ist. Manchmal schießt der bayerische Vize-Ministerpräsident und Wirtschaftsminister übers Ziel hinaus, die Vox populi wird zur Vox Populismus. Erst diese Woche aber war es Freie-Wähler-Chef Aiwanger, der die Verbalschellen kassierte. Die Gewerkschaften würden im Hinblick auf den Jobabbau in der Industrie nichts mehr vom Wirtschaftsminister erwarten, hieß es. Er sei bloß damit beschäftigt, irgendwelche Briefe zu schreiben.
Ein Sinnbild der vergangenen Monate. Bei Aiwanger und seiner Partei kriselt es. Das belegen auch Zahlen des Meinungsforschungsinstituts Civey, mit dem unsere Redaktion regelmäßig die politische Stimmung in Bayern untersucht. Zehn Prozent der Befragten würden derzeit ihr Kreuz bei den Freien Wählern machen. Damit bewegt sich die Partei irgendwo zwischen Grünen und Bayern-SPD im politischen Niemandsland, fernab der 15,8 Prozent der Landtagswahl 2023. Zeitweise rutschten die FW in Umfragen gar in die Einstelligkeit.
Wie Wähler von der CSU zu Hubert Aiwanger wandern – und dann bei der AfD landen
Die Entwicklung erklärt Lars Rensmann anhand von zwei Faktoren. Zum einen beobachtet der Politologe von der Universität Passau global eine außergewöhnliche Erwartungshaltung an Regierungen, „extrem viel in kurzer Zeit bewegen zu können“. Doch das funktioniere in einer Demokratie nicht, sagt er – weshalb sich viele Wählerinnen und Wähler von Regierenden enttäuscht zeigen. Nicht nur die Freien Wähler treffe das, auch CDU und CSU auf Bundes- und auf Landesebene. Als Juniorpartner, der zudem wie so oft von der größeren Koalitionspartei dominiert wird, schade dieser „extreme Regierungsmalus“ den FW besonders. Doch das ist nur ein Teil der Erklärung, sagt Rensmann.
Denn das Wählerpotenzial der FW überlappe mit jenem der AfD, und die „hat Rückenwind in Bayern“, wie Rensmann sagt. Einst hatten sie noch davon profitiert, dass CSU-Wähler nach rechts und damit zu ihnen gewandert waren. Nun sei jedoch zu beobachten, dass die AfD rechtsorientierte Wähler der Aiwanger-Partei von sich überzeugt. „Man könnte sie als Weiterwanderwähler bezeichnen“, sagt Rensmann. Mit dieser Analyse lässt sich auch erklären, wieso ihr zuletzt größter Skandal die Partei sogar stärkte.
Warum die „Flugblatt-Affäre“ den Freien Wählern nutzte – aber sie jetzt in einem Dilemma stecken
2023 behaupteten ehemalige Weggefährten, Parteichef Hubert Aiwanger habe als Schüler ein den Holocaust verharmlosendes Flugblatt verfasst und verteilt. Zwar wurde der Vorwurf nicht bewiesen, Aiwanger gelang es aber auch nicht, ihn zu widerlegen. Doch kurz nach jener „Flugblatt-Affäre“ fuhren die Freien Wähler bei der Landtagswahl ihr historisch bestes Ergebnis ein. In einer Gemengelage, in der mit der Süddeutschen Zeitung ein linksliberales Blatt die Affäre ins Rollen brachte und Aiwanger bezichtigte, ein Rechtsextremer gewesen zu sein, fühlte sich dessen Klientel in seiner Unterstützung tatsächlich eher bestärkt, analysiert Rensmann.
Aktuell sieht der Politikwissenschaftler die Freien Wähler hingegen in einem Dilemma. Den Zustand der Koalition aus Freien Wählern und CSU nehme er als „befriedet“ wahr – für den als Provokateur bekannten Aiwanger „womöglich sogar zu befriedet“, um sich profilieren zu können. Seine Partei weiter nach rechts zu rücken, würde sie nach Einschätzung Rensmanns jedoch nicht aus dem Umfragetief holen. „Die Wählerinnen und Wähler entscheiden sich dann lieber für das Original“, sagt er – also die AfD. Was hingegen helfen könnte, wäre ein „Besinnen auf konkrete Inhalte“. Für die Freien Wähler hieße das etwa, die Infrastruktur ins Auge zu nehmen, insbesondere in ihrem Kerngebiet: dem ländlichen Raum.
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