Es ist Freitag, es ist trübe draußen und es ist 8 Uhr. Durch das Fenster im ersten Stock des Burgkunstadter Regens-Wagner-Hauptsitzes ist das Rathaus zu sehen. Doch für das aus dem 17. Jahrhundert stammende Zierfachwerk hat man um diese Uhrzeit keinen Blick. 8 Uhr bedeutet Krisenstabsitzung – Montag bis Freitag und bei Bedarf auch am Wochenende. Es geht darum, im Spiegel täglich neuer Meldungen den Betrieb am Laufen zu halten.
„Hier muss normales Leben gestaltet werden.“
Sabine Schubert, Gesamtleiterin
„Hier muss normales Leben gestaltet werden“, sagt Sabine Schubert, die Gesamtleiterin der Einrichtung, die sich um behinderte Menschen kümmert. Doch was ist dieser Tage schon normal? Das Coronavirus brachte Veränderungen, neue Aufgaben, neue Abläufe.

Da wäre die Sache mit dem Mundschutz. Für die meisten Menschen ist es kein Problem, einen zu tragen. Man gewöhnt sich dran, man erkennt seine Familie, Freunde, Kollegen trotzdem. Und doch ist das wohl bald verbindliche Tragen jetzt ein Thema. Weil es in der Einrichtung Menschen gibt, die eine autistische Behinderung haben und somit eine andere Art von Wahrnehmung.
„Eventuell reichen da die Augen allein zum Erkennen (der sonst bekannten Personen) nicht mehr aus“, erklärt Melanie Becker vom psychologischen Fachdienst im Kinder- und Jugendbereich. Auch sie gehört zum fünfköpfigen Krisenstab. Das Mehr an Sicherheit durch das Tragen eines Schutzes würde manche Bewohner verunsichern. Weil sie Mimik und ein Lächeln vermissen. Oder aus Sicht eines Menschen mit Autismus ausgedrückt: Wer ist dieser Mensch hinter dem Mundschutz und warum blickt er nicht freundlich?
Karolin Zankl, die zwei Meter entfernt sitzt, ist zuständig für die Förderstätte für Menschen mit Autismus. Den Sinn eines Mundschutzes müsse man geistig behinderten Menschen „ganz anders verkaufen“, erklärt sie. Vielleicht wäre es sinnvoll, ein Smiley auf den Mundschutz zu malen, um dem Träger einen freundlichen Gesamteindruck zu geben. Man wird sehen. Doch der Sinn eines Mundschutzes muss auch sprachlich an die Bewohner vermittelt werden. „Wir müssen das übersetzen in leichte Sprache“, erklärt Sabine Schubert. Das wichtigste aber sei es, selbst ein Vorbild zu sein, gerade bei Kindern, denn sie ahmen die Erwachsenen nach. Das gilt auch für das Abstandhalten zueinander. Andererseits verbiete sich bei pflegebedürftige Personen der Sicherheitsabstand.
Gruppe Florian unter Quarantäne, Garten für Bürger geschlossen

Seit einige Mitarbeiter von Regens Wagner sich mit dem Virus infiziert haben, ist vieles anders. Die Gruppe Florian ist wegen des Kontakts mit einem infizierten Mitarbeiter in amtlich verordneter Quarantäne und die sieben betroffenen Kinder und Jugendlichen sind getestet worden. Ein Ergebnis liegt noch nicht vor. Gerade ihnen kann man nur schwer erklären, was derzeit um sie herum geschieht. Wenn die Gruppe aber merke, dass die Mitarbeiter ruhig bleiben, dann tue ihnen das gut, heißt es.
Es sind mit Traumata vorbelastete Bewohner, für die eine Quarantäne eine besondere Härte darstellt. Um ihnen eine Entlastung und Freude zu bieten, ist der Garten der Einrichtung mit Wippen, Schaukeln, Sitzbänken und Liegen, einem Sportplatz, einem Trampolin und mehr in den nächsten zwei Wochen ausschließlich den Florianskindern vorbehalten. Für die Bürger ist das sonst öffentlich zugängliche Gelände so lange gesperrt.

Geschickte Übergangslösungen gibt es einige. Eetwa der Besucherstopp für alle 30 Gruppen. Jede lebt jetzt gut betreut quasi für sich, um im Falle eines Falles die Infektionskette so kurz wie möglich zu halten. Doch Übergangslösungen gibt es auch in der Produktion. In der St.-Joseph-Werkstätte, wo sonst vor allem Montagearbeiten für die Industrie ausgeführt werden, werden jetzt Nasen-Mund-Tücher zum Schutz vor Ansteckung mit dem Virus genäht. Dazu soll die Näherei, sonst eher eine Zwei- oder Drei-Mann-Abteilung jetzt aufgestockt werden, erklärt Hartmut Springfeld, Geschäftsführer der Werkstätte. „Zehn plus X Mitarbeiter sind geplant.“ Es gilt einen Markt zu bedienen und den Betrieb auszulasten. Angeschafft werden sollen Nähmaschinen, die im industriellen Bereich eingesetzt werden.
1000 Nase-Mund-Tücher sollen täglich in der Werkstatt genäht werden
Von 400 Nase-Mund-Tüchern pro Tag auf 1000 soll die Produktion in den nächsten Tagen gesteigert werden. Für die Fertigung hat man sich Tipps und Know-How einer Werkstatt in Bremen eingeholt, die sogar für Krankenhäuser fertigt. Genäht wird vom Regens-Wagner-Personal, denn von den mehreren hundert Mitarbeitern mit Behinderung darf wegen der Quarantäne keiner die Werkstätte betreten. Und so hat die Medaille zwei Seiten: eingerseits liegen schon Bestellungen aus Bad Staffelstein, vom Landkreis, von mehreren Sozialstationen und von Privatpersonen vor und andererseits fehle den Betreuten jetzt etwas Sinnstiftendes: „Denen fällt die Decke auf den Kopf, die suchen Tagesstruktur.“

„Die Personaldecke ist durch das Virus und die um diese Zeit ohnehin üblichen Grippefälle etwas dünner geworden“, erklärt Schubert. Das verlangt nach Lösungen. „Wir haben viele Mitarbeiter, die sich auf neue Arbeitsfelder einlassen mussten“, erklärt sie. Fortbildung durch Pragmatismus lautet die Lösung. Manch ein Mitarbeiter habe dadurch besseren Einblick in die Tätigkeit seiner auf anderem Feld tätigen Kollegen erhalten. All das trage dazu bei, den Auftrag zur Hilfe zu erfüllen.
In manchen Fällen geben auch die Bewohner der Situation einen neuen Anstrich. Oder zumindest unter Anleitung ihren Fluren. Und falls wegen des Besucherstopps die Sehnsucht nach der Familie doch zu groß wird, stehen Schulräume bereit, um den Bewohnern das Skypen mit Angehörigen jederzeit zu ermöglichen. Der Schlüssel dafür ist an der Pforte deponiert, sagt Tobias Fürst. Er ist Schulleiter bei Regens Wagner und verantwortlich für 43 Schüler zwischen der 1. Klasse und Berufsschulpflicht. Da Unterricht gerade nicht konventionell gegeben werden darf, gehen die Lehrkräfte nun in die Wohngruppen.
Sorge der Bewohner um ihre Familien und Skype gegen die Einsamkeit

Rührende Erlebnisse gibt es auch. Weil es heißt, Covid-19 gefährde eher ältere Menschen, kommen die Bewohner ins Grübeln. „Ist meine Mama alt?“, so eine ihrer Fragen. Besänftigt man sie mit der Verneinung ihrer Frage, wollen sie wissen „Dann ist meine Oma alt?“, berichtet Caroline Fischer, die für mehrere Erwachsenengruppen zuständig ist. Und einige Bewohner sorgen sich, ob der Osterhase trotz Besucherstopp kommen darf.
Die Pandemie öffne auch die Augen für Neues, betonen Caroline Fischer und Melanie Becker. So wie für das Trampolin im Park. Melanie Becker fällt unterwegs auf, dass sie all die Jahre noch nie darauf gehüpft ist. Jetzt tut sie es. Auch das ist eine neue Erfahrung.