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BURGKUNSTADT: Erinnerungen an die Flucht von Breslau nach Burgkunstadt

BURGKUNSTADT

Erinnerungen an die Flucht von Breslau nach Burgkunstadt

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    Burgkunstadt um 1945 – die neue Heimat der Flüchtlingsfamilie.
    Burgkunstadt um 1945 – die neue Heimat der Flüchtlingsfamilie. Foto: Andreas Motschmann

    „Vier Wochen sollten wir Breslau verlassen, doch wir kamen niemals zurück.“ So schreibt Ingeburg in ihren Erinnerungen. Sie hat als 16-Jährige einen neunseitigen Bericht über ihre Erlebnisse während der Flucht aufgeschrieben. Heute lebt die 90-Jährige im Seniorenheim. Mit Gerlinde, ebenso Burgkunstadterin, spricht sie oft über den Alltag und über Aktuelles. Die Situation der Flüchtlinge im 21. Jahrhundert sprechen sie dabei an, ebenso ihre eigene Flucht.

    Schneewasser gegen den Durst

    27. Januar 1945: Die zehnjährige Ingeburg war mit ihrer Schwester auf dem Heimweg von der Bücherei. Auf der Straße bemerkte sie hektisches Treiben. Zu Hause war überraschenderweise ihr Vater, der in einem Wehrmachtsbetrieb arbeiten musste. Er erklärte der Familie, dass sie sofort für vier Wochen Breslau verlassen sollten. Sie musste zweifach Kleider und Unterwäsche anziehen: „Wir konnten es vertragen, denn nachts waren es um die minus 20 Grad. Mein vierjähriger Bruder bekam ein Schild mit Namen und Adresse umgehängt.“

    Sie hatten Glück; mit dem letzten Zug konnten die Kinder mit ihrer Mutter abfahren. Ziel war Dresden, dort wohnten Tante und Onkel. Wegen des ständigen Fliegeralarms musste der Zug immer wieder anhalten und so kamen sie erst nach drei Tagen wohlbehalten an. Um den Durst zu stillen, tranken sie auf der langen Fahrt geschmolzenes Schneewasser.

    Bombenangriff in Dresden

    Die Freude des Wiedersehens mit den Verwandten währte nicht lange. Vom 13. auf den 14. Februar 1945 erfolgte auf Dresden einer der verheerendsten Luftangriffe mit etwa 25.000 Bombenopfern. „Die Sirenen heulten, wir rannten zum Keller. Es krachte Schlag auf Schlag. Ich glaubte, die Welt geht unter. Damit beim Krachen die Trommelfelle nicht platzen, mussten wir die Finger in die Ohren stecken und den Mund öffnen. Vor Angst weinte ich. Als wir wieder aus dem Keller stiegen, sahen wir einen riesigen roten Feuerball am Himmel – Dresden brannte.“ Ihre Tante kam von der Arbeit nach Hause; sie war an vielen verkohlten Leichen und verletzten Menschen vorbeigegangen. Deren Schreie verfolgten sie in der Nacht; einschlafen konnte sie nicht.

    Flüchtlinge nicht willkommen

    Die zehnjährige Ingeburg erlebte die verheerendsten Luftangriffe auf Dresden.
    Die zehnjährige Ingeburg erlebte die verheerendsten Luftangriffe auf Dresden. Foto: Wikipedia

    Ende März mussten sie Dresden verlassen. Der Zug brachte sie nach endloser Fahrt nach Niederbayern. In Straubing stiegen plötzlich alle aus dem Zug: Bombenalarm. Ein Einheimischer zeigte den Fremden den Weg zum Schutzkeller einer Brauerei. Vier Stunden saßen die Flüchtlinge neben einem Berg von Eisplatten; Frieren war angesagt. Nach der Zugfahrt bis Bogen ging es schier endlos lange mit dem Traktor durch eine einsame Gegend. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah Ingeburg große Berge. Ihr Anblick „erdrückte“ das Mädchen aus der Stadt. Sie glaubte, am Ende der Welt angelangt zu sein. Endstation war der kleine Ort Bernried. In diesem Bauerndorf waren sie nicht willkommen.

    Zum Schlafen mussten sie sich mit vielen anderen Flüchtlingen einen Haufen Stroh teilen. Die Bernrieder waren arm; ihr wenig Hab und Gut mussten sie mit den Flüchtlingen teilen. Sie erinnert sich noch heute an die Einheimischen, die immer wieder sagten: „Wenn die Flüchtlinge weg sind, gehen wir kniend hundertmal um die Kirche.“

    Eine freudige Überraschung im April; eine Frau kam zu ihrer Mutter: „Ihr Mann schickt mich. Er ist auf der Landstraße von Deggendorf unterwegs.“ Ihr Vater hatte sich mit seinem Betrieb auf den Weg von Breslau nach Hamburg gemacht. Dort hatte er über das Rote Kreuz die Adresse seiner Familie erfahren und Urlaub beantragt. Ingeburg konnte ihren Vater wieder in die Arme schließen.

    Angriffe von Tieffliegern

    „Dann wurde uns ein Quartier auf dem Einzelhof Giglberg am Waldrand zugeteilt. Auf dem langen Weg wurden wir von Tieffliegern überrascht. Wir rannten so schnell wir konnten und sprangen hinter Sträuchern. Auf dem Einzelhof wohlbehalten angekommen, war der Bauer von unserer Ankunft nicht erfreut; er musste uns sein Schlafzimmer überlassen. Auch beim Milch holen im Dorf wurde ich oft von Tieffliegern überrascht; nach dem Wegrennen war die Milchkanne halb leer. Angst vor Tieffliegern hat mich noch lange verfolgt“.

    Des Weiteren erinnert sich die Seniorin: „Wir hungerten oft; immer wieder aßen wir Sauerampfer mit etwas Zucker oder nur Blaubeeren.“ Für eine kleine Extra-Mahlzeit half die Zehnjährige auf dem Bauernhof mit. Alle aßen aus einer einzigen Schüssel: „Schmarrn mit Kirschen und Hirse war mein Lieblingsessen. Ebenso aß ich gerne Sauersuppe mit eingebrocktem Brot.“

    Betteln um Brot und Kartoffeln

    Sie hungerten. Sie gingen betteln um ein Stück Brot und Kartoffeln und wurden dabei beschimpft; Ingeburg wollte nicht mehr mitgehen. Ihre Mutter und Schwester schafften es, da ein kleines Stück Brot und dort drei Kartoffeln zu erbetteln. Ihr Vater arbeitete auf dem Bauernhof; der arme Bauer konnte ihn nur mit wenigen Naturalien entlohnen. Salz zum Kochen gab es nicht. Der Bauer hatte allerdings Viehsalz, das hütete er wie einen Schatz. Ab und zu bekamen sie etwas, aber davon bekamen sie Ausschläge.

    Kurz vor Kriegsende tauchten deutsche Soldaten auf und verlangten von ihrem Vater den Wehrpass. Sie hielten ihn für einen Deserteur und wollten ihn erschießen. Zum Glück konnte er den Urlaubsvermerk im Pass finden; sie ließen ihn laufen.

    Bei Kriegsende kamen die Amerikaner in die Gegend. Ein Jeep fuhr zum Bauernhof; Ingeburg versteckte sich aus Angst hinter den Himbeersträuchern. Die Soldaten verlangten Eier. Danach gab es kaum Lebensmittel im Dorfladen, alles hatten die Amerikaner geholt. Zum Glück konnte der Vater nach Kriegsende bei der Familie bleiben.

    Transport auf Munitionskisten

    Ein Foto aus der Kindheit in Breslau.
    Ein Foto aus der Kindheit in Breslau. Foto: Andreas Motschmann

    In den Bergen gefiel es ihnen nicht; die Familie beschloss, wieder nach Breslau zurückzukehren. Sie machten sich auf den Weg nach Straubing, zur Freude des Bauern. Sie fanden einen Güterwagen nach Regensburg. In dem leeren Viehwaggon saßen alle auf dem Boden. Mit dem nächsten Güterwagen nach Nürnberg saßen sie in einem offenen Waggon zwischen Kanistern. In Nürnberg kletterten sie in einen mit Kisten halbvoll beladenen Waggon. Erst bei der Fahrt bemerkte die Familie, dass sie auf einem „Pulverfass“ saß; Munitionskisten. In Bamberg stiegen sie zum ersten Mal in einen Personenzug ein; in Lichtenfels war die Fahrt schon zu Ende. Die Reisenden erfuhren, dass sie nur bis Hof weiterfahren könnten. Die Amerikaner befahlen allen, auszusteigen. Sie brachten die Familie zum Pauson-Haus in der Bahnhofstraße; dort verbrachten sie die Nacht im Hausgang auf dem Steinboden.

    Neue Heimat in Burgkunstadt

    An Lichtenfels erinnert sich Ingeburg: „In den nächsten Tagen machten sich Vater und Mutter auf Arbeitssuche; wir Kinder waren den ganzen Tag alleine.“ Ihr Vater fand eine Arbeit als Fräser bei der Maschinenfabrik Fischer in Burgkunstadt.

    Ein Laster nahm die Familie bis Zettlitz mit, aber dann mussten sie zu Fuß weiter laufen: „Ich wollte nicht mehr laufen und nichts mehr tragen, doch dann nahm uns ein Bauer eine Wegstrecke mit. So erreichten wir an einem schönen Sommertag unser neues Zuhause, das Marinelager in Burgkunstadt.“

    Dort hat sie eine kaufmännische Ausbildung gemacht und hat seitdem in diesem Beruf gearbeitet. Nach ihrer Heirat zog Ingeburg 1956 nach Weismain. Erst 1997 besuchte sie mit ihren Ehemann Breslau. Leider stand das Elternhaus nicht mehr. Das Rathaus und die umliegenden Häuser waren neu aufgebaut. Abschließend stellt die Seniorin im Rückblick fest, wie schlimm es ist, die Heimat zu verlassen.

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