Katharina Seidel war 12 Jahre alt, als die Amerikaner in Stetten einmarschierten. Rudi Seidel erlebte als 15-jähriger Metzgerlehrling, wie die Rote Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges sein Dorf nach versteckten deutschen Soldaten durchsuchte. Jetzt sind sie 82 und 85 Jahre alt. Sie erinnern sich noch deutlich an das Kriegsende, das sie als Heranwachsende erlebt haben.
„Von Tiefenroth rollten die Panzer den Berg herunter“, erzählt Kathi Seidel. Darauf standen amerikanische Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag. Kathi Zeck, wie sie damals noch hieß, und ihre drei Geschwister hielten ein Laken, jeder an einer Ecke. „Ich weiß noch, wie wir mit Leibeskräften mit dem weißen Betttuch gewedelt haben“, sagt sie. Auf Geheiß ihrer Mutter sind alle mit weißen „Fahnen“ vors Haus getreten. Das Anwesen am Ortsrand von Stetten war das erste, das die Amerikaner passierten. Starr vor Schreck starrten die Kinder auf die Soldaten, die mit den Maschinengewehren auf sie zielten. Dann über das ganze Gesicht lachten. „Wir tun euch nichts, das ist nur Spaß“, habe das bedeutet. Und dann gab es Schokolade für die Kleinen.
„Für uns ging es glimpflich ab.“ Anders sah es aus bei den Nachbarn. Hier waren zwei deutsche Soldaten in der Scheune versteckt, die sich nicht ergaben, hier fielen Schüsse.
Vorher herrschte helle Aufregung im Haus. Der Vater war gerade in Lichtenfels unterwegs und konnte nicht zurück, weil die Brücke gesprengt war. Mutter hatte schnell das Hitlerbild und das Mutterkreuz in den Ofen gesteckt. Es hatte sich schon rumgesprochen, dass die Amerikaner kommen. Im Wohnzimmer stand der Volksempfänger, dadurch war bekannt, „wo der Feind steht“.
„Mensch Michel, was machst du denn in Lichtenfels, wenn jeden Tag alles zu Ende sein könnte“, schimpfte die Mutter, als der Familienvater endlich nach Stetten zurückkam. Auf provisorischen Laufstegen konnte der Main wieder überquert werden. Auch Lichtenfels hatte sich ergeben. Der Güterbahnhof dort lag schon seit Wochen in Trümmern.
Zu dieser Zeit hatte Kathi schon einen Bruder verloren, gefallen einen Tag vor Weihnachten 1941. Voller Begeisterung war er „fürs Vaterland“ in den Krieg gezogen. Abitur, Musterung, Front. Die eingehämmerte Propaganda hatte ihn überzeugt. „Wer bei der 95er Coburger Division eingesetzt wurde, hatte quasi ein Todesurteil“, so Kathi Seidel. Ihre Mutter habe damals gleich gesagt, „den sehen wir nicht mehr wieder“. In seinem letzten Brief, geschrieben 25 Kilometer vor Moskau, stand: „Wir sind verloren.“ Schmerzlich war die Todesnachricht. Dazu kam die Sorge um einen zweiten Bruder, von dem keiner wusste, ob er noch lebt.
Sie selbst habe keine schlechten Erfahrungen gemacht mit den Fremden. Dabei hatte die Familie jedoch eine ganze Portion Glück. Im Banzer Wald waren in diesen Tagen Scharen von deutschen Soldaten versteckt. „Es hat nur so gewimmelt.“ Täglich sei ihr Vater mit dem Pferdegespann, er war dort Langholzfahrer und kannte jeden Fleck, in den Wald gefahren, mit Äpfeln und selbst gebackenem Brot auf dem Mistwagen versteckt unter Planen für die Hungrigen. „Die wollten doch alle nur heim zu ihren Familien“, sagt Kathi Seidel.
„Ich weiß noch, wie wir mit Leibeskräften mit dem weißen Betttuch gewedelt haben.“
Kathi Seidel, geborene Zeck
In ihrer Familie wurde immer geteilt. Mit den Flüchtlingen, die an die Türe klopften. Mit dem französischen Gefangenen, der auf dem Hof Dienst tat, weil die eigenen Männer auf dem Feld waren. Fast jeder Bauernhof hatte einen. Die Franzosen haben regelmäßig Päckchen von daheim bekommen. „Mein Lieber, hat deren Parfum gut gerochen“, erinnert sich Kathi. Und gerät fast ein bisschen ins Schwärmen, so „chic waren die.“
Auch mit dem Hitlergruß hatte die kleine Kathi Zeck ihre Erfahrung gemacht. Um einen überzeugten Parteisoldaten aus dem Nachbardorf zu ärgern, hatten die Kinder ihm extra gemeinsam lautstark „Grüß Gott“ zugerufen. Er bebte vor Zorn, drohten ihnen mit schlimmen Folgen und packte eines am „Schlawittchen“. „Kinder, warum macht ihr denn sowas?“, klagte die verängstigte Mutter, als sie es erfuhr. Die Kinder hatten die mögliche Tragweite ihres Scherzes nicht überrissen. „Ich denke heute noch dran, wenn ich an dem Haus vorbeikomme“, sagt Kathi. Der Alltag für die Kinder war unstet. Oft fiel die Schule aus, weil kein Lehrer da war. War Unterricht, haben sie sich auf dem Heimweg unter Büschen versteckt, wenn die Tiefflieger kamen. Sie haben die Bombadierung Schweinfurts bis nach Stetten gehört. Und in Stetten wackelten die Fenster, als der Munitionszug in Zapfendorf am 1. April 1945 explodierte.
Als der Krieg vorbei war, fehlte immer noch jedes Lebenszeichen vom Bruder. „Liebes Sorgenkind, wirst wohl schon zuhause sein“, kam eines Tages ein Brief einer Lazarettschwester an den immer noch Vermissten in Stetten an. Erst Wochen später, am 8. Dezember 1945 ist er zurückgekehrt. Er war zur Genesung in Dänemark. An einem Fuß einen Schuh, am anderen, durchschossenen Fuß nur Lumpen. Die Familie war überglücklich: Er hat überlebt.
Eine Odyssee
Für Rudi Seidel waren die letzten Kriegsmonate mit einer Odyssee verbunden, von seinem Heimatdorf, nahe der polnischen Grenze, über Berlin und Augustusburg, bis er in Kleukheim ein neues Zuhause fand. Er ist aufgewachsen in einer Metzgerei in Bindow, heute Bedow, an der Oder bei Crossen. Ein aufstrebendes Dorf, mit Tankstelle und Tourismus. Berliner kamen gerne zur Sommerfrische. Der Krieg machte allem ein Ende. Am 29. Januar 1945, mit vierzehneinhalb Jahren, wurde Rudi Seidel zum Volkssturm eingezogen. In der Ferne war schon Kanonendonner zu hören, die Front rückte näher. „Ich hatte Glück, am nächsten Tag schickten sie mich wieder weg, weil keiner mehr Zeit hatte, uns an der Waffe auszubilden.“ Auf dem Heimweg war die Straße voller Flüchtlinge. Die Schreckensnachricht: „Du brauchst nicht mehr weiter, deine Mutter, die Angehörigen, alle sind weg. Das ganze Dorf ist leer.“ Später hat er erfahren, dass russische Soldaten zwei Kilometer außerhalb von Bindow das Feuer auf den Flüchtlingstreck eröffnet hatten, seine Mutter und seine zweijährige Großcousine aber unter den Überlebenden waren.
Der Vater an der Front, die Mutter mit einem Flüchtlingstreck weg, der Junge drehte um und machte sich auf den zwölf Kilometer langen Weg zu einer bekannten Familie in einem anderen Dorf, nach Guben. „Sonst wäre ich den Russen in die Hände gelaufen.“ Dort kauften die Bekannten ihm eine Fahrkarte und setzten ihn in den letzten Zug nach Berlin, wo seine Tanten lebten. Der Junge vom Land irrte in der Großstadt herum, zwischen Straßenbahnen, hohen Häusern, Menschenmengen. Und er fand seine couragierte Tante Hedwig. Sie nahm ihn auf, dort erlebte er Bombenangriffe, jede Nacht ging es in den Luftschutzkeller. Das ganze Nachbarhaus war zerstört. Irgendwie hat sein Vater, der mit 48 Jahren noch eingezogen worden war, erfahren, dass der Sohn in Berlin ist. In einem Brief schrieb er, die Schwester soll den Jungen nach Augustusburg schicken, zu einer Metzgerlehre bei einem Bekannten, die Stadt sei zu gefährlich. „Nach zwei Monaten endlich wieder Bäume!“, atmete Rudi Seidel auf.
Wenige Wochen später stand auch hier die Rote Armee vor dem Dorf. SS-ler wollten sich nicht ergeben, eröffneten eine Schießerei mit den verhandelnden Russen. Die Folge: Kampftruppen durchkämmten jedes Haus nach versteckten Soldaten. „Sie hielten mir ein Gewehr in den Rücken, ich habe nicht gewusst, was mit mir geschieht.“ Eine Stunde wie eine Ewigkeit. Verständigungsprobleme, bis die Rotarmisten glaubten, dass Seidel ein Metzgerlehrling und kein Soldat ist.
Die Russen kamen mit Pferdewagen ohne Deichsel. „Die Pferde haben mir so Leid getan, wenn sie den Berg ungebremst herunter jagten“, so Seidel. Die Russen soffen Spiritus, weil kein Schnaps mehr da war. Die Kinder hatten Angst. Im Bauernhof erschossen sie ein Schwein und nahmen es mit, erlaubt oder nicht. Das in den Ställen verbliebene Vieh, Kühe und Schafe, wurde zu Fuß Richtung Osten getrieben, von zwangsverpflichteten Viehtreibern. Ein Freund Rudi Seidels starb dabei an Typhus, nachdem er aus einem Brunnen trank, in dem ein Kadaver schwamm. Hof für Hof wurde von den russischen Soldaten eingenommen und durchsucht. Jeder Widerstand führte zur Erschießung. Es herrschte Kriegsrecht.
Die Bewohner des Dorfes trafen sich immer in einem Raum, damit keiner allein war. Vor Vergewaltigungen waren junge Frauen nie sicher. Sie verkleideten sich, um wie ein altes Mütterlein auszusehen. „Frau, komm!“, hieß es trotzdem allzu oft. „Der Krieg war in der Heimat so schlimm wie an der Front. Weil Hitler in Russland soviel zerstört hat, ganze Dörfer niedergebrannt und die Landwirtschaft vernichtet, waren die russischen Soldaten so voller Hass“, sagt Rudi Seidel, der 1941 ebenfalls einen Bruder verloren hat.
„Der Krieg war in der Heimat so schlimm wie an der Front. “
Rudi Seidel
Doch auch manche Anekdote weiß er noch. Die russischen Soldaten wuschen Kartoffeln in einem Klo, so etwas hatten sie noch nie gesehen. Plötzlich waren die Kartoffeln weg, im Abfluss verschwunden. „Sabotage“, vermuteten sie entsetzt und eröffneten das Feuer auf das WC.
Im Mai 1945 war der Krieg aus. Im Juli 45 gab es schon wieder Tanzveranstaltungen. „Das hat mir weh getan, so viele Menschen waren ums Leben gekommen.“ 1947 kam Rudi Seidel nach Bayern, zu seinem Vater, der inzwischen in Kleukheim ein Zimmer bei einem Bauern hatte. 1951 eröffneten er und sein Vater in Staffelstein eine Metzgerei. Damals kannte er seine Kathi schon. 1952 folgte die Hochzeit. 63 Jahre sind inzwischen vergangen. „Sei froh, dass du mich kennengelernt hast“, sagt Kathi und beide lachen. Trotz der schweren Kinder- und Jugendjahre: Ihren Humor haben sie ihr Leben lang behalten.