Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Obermain
Icon Pfeil nach unten
Bad Staffelstein
Icon Pfeil nach unten

BAD STAFFELSTEIN: Schon Luther quälte das Pfeifen

BAD STAFFELSTEIN

Schon Luther quälte das Pfeifen

    • |
    • |
    Herzliche Begrüßung: Referent Prof. Dr. Gerhard Göbel (2. v. li.) lobte die Arbeit der Tinnitus-Selbsthilfegruppen. Für die Kulmbacher Gruppe war Herbert Rösch angereist, aus Coburg Iris Hohenstein (links) und Rosi de Rooij.
    Herzliche Begrüßung: Referent Prof. Dr. Gerhard Göbel (2. v. li.) lobte die Arbeit der Tinnitus-Selbsthilfegruppen. Für die Kulmbacher Gruppe war Herbert Rösch angereist, aus Coburg Iris Hohenstein (links) und Rosi de Rooij. Foto: Mario Deller

    Ich höre was, was du nicht hörst. In einer Reihe mit dem Musiker Eric Clapton, Captain-Kirk-Darsteller William Shatner und Martin Luther genannt zu werden, entlockt nur Nicht-Insidern ein Lächeln. Diese berühmten Namen finden sich nämlich – in der einschlägigen Literatur über chronischen Tinnitus. Und auch vier Prozent der deutschen Bevölkerung sind hiervor betroffen. Kein Wunder also, dass am Donnerstagabend der Saal in der Schön Klinik beim Vortrag von Prof. Dr. Gerhard Goebel über dieses Thema im Rahmen der Reihe „Gesundheitsgespräche“ aus allen Nähten platzte. All jene, in deren Kopf sich der akustische Quälgeist eingenistet hat, brauchen nicht zu verzweifeln, so der positive Tenor der Ausführungen des Chefarztes der Schön Klinik Roseneck.

    Der „Tinnitus-Papst“, wie die Leiterin der Psychosomatik der Schön Klinik Bad Staffelstein ihren namhaften Kollegen in ihrer Anmoderation bezeichnete, vermittelte den mindestens 200 Zuhörern in seinen Ausführungen die teils komplexen Zusammenhänge dieses Themenfeldes fachlich kompetent und zugleich in verständlichen Worten.

    „Passiv bleiben und auf ein Wunder hoffen – das ist bei vorliegendem chronischen Tinnitus überhaupt keine Lösung.“

    Prof. Dr. Gerhard Goebel, „Tinnitus-Papst“

    Tinnitus ist ein Symptom. Die Gründe, warum es im Ohr plötzlich rauscht, pfeift oder hämmert, sind vielschichtig, wie die interessierten Zuhörer – darunter freilich viele selbst Betroffene – im ersten Teil des Vortrags erfuhren. Nicht selten sind Stress oder eine psychisch sehr belastende Situation der Auslöser, aber auch Lärm, bereits vorhandene Schwerhörigkeit oder Probleme an Kiefer oder Halswirbelsäule.

    Um das Phänomen „Tinnitus“ verstehen zu können, muss man sich mit dem so genannten „limbischen System“ auseinandersetzen, auf das Goebel deshalb ebenfalls einging. Dieses Gehirnareal in unserem Kopf, so der Referent, filtere die Geräusche, die wir tagtäglich hören, weshalb wir normalerweise nur 30 Prozent davon bewusst wahrnehmen. Beim Tinnitus funktioniert das limbische System aber nicht mehr richtig. „Das Pfeifen oder Rauschen im Ohr wird dann fälschlicherweise als Warnsignal bewertet und deshalb ungefiltert an die Hörrinde weitergeleitet mit der Folge, dass der Betroffene das Tinnitus-Geräusch immer lauter wahrnimmt“, erklärte der Mediziner.

    Hörgerät kein Makel

    Oft verschwindet das lästige Geräusch im Ohr nach kurzer Zeit wieder – aber eben leider nicht immer. „Dann sollte der Weg zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt beziehungsweise zum Hörgeräteakustiker führen.“ Der HNO-Arzt erforscht durch Untersuchung und Gespräche den Grund für den Tinnitus als Basis für die anschließende Behandlung oder notfalls Therapie. Geht das quälende Ohrgeräusch mit nachlassendem Hörvermögen oder bereits vorhandener Schwerhörigkeit einher, könne ein Hörgerät oder dessen Anpassung beim Hörgeräteakustiker oft wirksame Abhilfe schaffen. Wenn jemand schlecht hört, verstärkt dies die Wahrnehmung des Tinnitus-Geräusches nämlich. Goebel unterstrich in diesem Zusammenhang: „Ein Hörgerät ist kein Makel. Wer eines braucht, sollte keine falsche Scheu zeigen, denn das Ohr verbindet die Menschen mit den Menschen.“

    Immer wieder betrifft das Pfeifen, Brummen oder Rauschen auch Menschen, deren Gehör ansonsten blendend funktioniert. Hier kommt, wenn der Tinnitus chronisch geworden ist, der so genannte „Rauschgenerator“ zum Einsatz. Mittels dieses Gerätes („Noiser“) hört der Patient zusätzlich ein leises, wenig störendes Geräusch. Auf diese Weise „verlernt“ der Leidende quasi wieder die fatale Fokussierung auf das Tinnitus-Geräusch.

    Solche technischen Geräte können für Betroffene eine große Hilfe sein, genauso wie weitere im Vortrag zur Sprache gekommene Therapiemöglichkeiten wie medikamentöse Behandlung, Neurofeedback oder musiktherapeutische Schlafkissen. Bei chronischem Tinnitus – hiervon spricht man in Fachkreisen, wenn das Leiden länger als drei Monate anhält – kommt aber freilich der psychologischen Betreuung des Patienten mit Verhaltenstherapie eine wichtige Rolle zu. Chronischer Tinnitus führt schließlich, und das ist nicht verwunderlich, oft auch zu Schlafstörungen und Depressionen.

    „Niemand glaubt mir, wieviel Qual mir das Klingen und Sausen der Ohren verursacht.“

    Martin Luther, Tinnitusgeplagter

    Wer über ein gesundes Gehör verfügt, sollte dies zu schätzen wissen und darauf Acht geben, dass dies auch so bleibt. Diese freilich nicht nur an Tinnitus-Patienten gerichtete Botschaft vermittelte der anschließend vom Referenten gezeigte Film „Disco-Besuch mit Folgen – achte auf deine Ohren“. Während des Vortrages war auch gelegentlich ein Bohrgeräusch von draußen zu hören. „Der Bauarbeiter, der da werkelt, trägt hoffentlich einen Gehörschutz“, meinte Goebel, denn selbst hochmoderne Hörgeräte könnten immer nur ein Ersatz sein für das mit aller Technik unschlagbare intakte Gehör.

    „Passiv bleiben und auf ein Wunder hoffen – das ist bei vorliegendem chronischen Tinnitus überhaupt keine Lösung“, betonte Goebel, der im Anschluss auch für Fragen zur Verfügung stand. Er lobte in diesem Zusammenhang aber auch die wichtige Arbeit der Tinnitus-Selbsthilfegruppen, in der Betroffene Erfahrungen austauschen und sich informieren können. „Deren Besuch kann Patienten zusätzlich zur medizinisch-therapeutischen Behandlung wirklich ans Herz gelegt werden aufgrund des dadurch vermittelten Gefühls, nicht allein zu sein.“

    Vertreter der beiden Tinnitus-Selbsthilfegruppen Kulmbach und Coburg hatten im Zuge der Veranstaltung einen Info-Stand aufgebaut, der vor und nach dem Vortrag regen Zulauf verzeichnete. Herbert Rösch (Kulmbach) sowie Iris Hohenstein und Rosi de Rooij (Coburg) standen für Fragen rund um das Thema zur Verfügung und hatten allerhand Infomaterial mitgebracht. Die Kulmbacher Tinnitus-Gruppe, über die sich Interessenten via Internet auf www-tinnitus-selbsthilfegruppe-kulmbach.de schlau machen können, trifft sich jeden zweiten Samstag im Monat um 14 Uhr in der Kulmbacher Gaststätte „Kesselstube“, die nächste Zusammenkunft der vor kurzer Zeit neu organisierten Coburger Selbsthilfegruppe findet am Donnerstag, 17. Oktober, um 19 Uhr im Bürgerhaus Linde in Ahorn bei Coburg statt.

    Beim einem anwesenden Hörgeräteakustiker konnten die Besucher außerdem einen kostenlosen Hörtest absolvieren.

    „Niemand glaubt mir, wieviel Qual mir das Klingen und Sausen der Ohren verursacht“, schrieb einst Martin Luther vor rund 500 Jahren. Heute, im 21. Jahrhundert, gibt es zwar immer noch keine „Wunderpille“, doch durch moderne Medizin, Hörgeräteakustik und den Besuch einer Selbsthilfegruppe können Betroffene dem akustischen Störenfried Tinnitus die Stirn bieten.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden