Was hat ein Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie mit Suchterkrankungen zu tun? Chefarzt Dr. Nedal Al-Khatib klärt auf: „Suchterkrankungen gelten als psychiatrische Erkrankung.“ Beim Kutzenberger Gesundheitsforum am Samstag warnt der Chefarzt: „Das Thema Sucht ist leider immer aktuell, Suchterkrankungen sind auf dem Vormarsch.“
Vor allem während des Corona-Lockdowns wurde oft zur Flasche gegriffen. Seine Station im Klinikum bietet 20 stationäre Plätze an. „Sie sind durchgängig belegt.“
Früher habe es Unterschiede im Suchtverhalten gegeben: Männer griffen eher zu Alkohol, Frauen eher zu Tabletten. „Mittlerweile hat sich das leider angeglichen“, bedauert Al-Khatib. Vor allem beim Cannabis-Konsum hätten die Frauen stark „aufgeholt“.
Riskanter Konsum
Die teilweise Legalisierung der Droge Cannabis, die zum 1. April von der Regierung beschlossen wurde, findet der Chefarzt sehr bedenklich. Schon vorher habe es hierzulande mehr als zwei Millionen Menschen gegeben, die Cannabis konsumieren. Sie riskierten Hirnschäden, Fehlbildungen beim Embryo und auch Schizophrenie.
Etwas weniger hoch sei die Zahl der Menschen in Deutschland, die medikamentenabhängig sind: etwa 1,2 Millionen. Rund eine Million greife regelmäßig zu Amphetamin-Typ-Stimulantien wie Ecstasy. An die 150.000 Menschen konsumierten Diacetyl-Morphin, besser bekannt als Heroin. Die Synthtischen Cannabinoiden, auch „Spice“ genannt, seien ab 2004 vom Drogenmarkt in Europa sogar als legale Alternative zu Cannabis beworben worden. Sie hätten starke Nebenwirkungen, fänden sich in Räucher- oder Kräutermischungen und würden meist geraucht.
Altbekannte Substanz
Die Substanz Amphetamin habe es schon 1893 gegeben. In Deutschland sei sie völlig legal im Medikament Pervitin als Aufputschmittel für Piloten eingesetzt worden (seit 1988 verboten). Die so genannte Panzerschokolade, angereichert mit der Droge Amphetamin, sei zur Dämpfung des Angstgefühls und zur Steigerung der Leistungsfähigkeit von Soldaten im Zweiten Weltkrieg ausgegeben worden. Als weitere Suchtmittel stellte Dr. Al-Khatib Alkohol, Kokain und Tabak vor.
All diese Stoffe könnten süchtig und damit krank machen. Von einer Abhängigkeit spreche man, wenn drei dieser Faktoren vorliegen: starkes Verlangen nach der Substanz, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren, Entzugssymptome nach Verringerung des Konsums, Vernachlässigung anderer Aktivitäten zugunsten des Konsums, anhaltender Konsum trotz schädlicher Folgen, höhere Dosis notwendig, um die gleiche Wirkung zu erzeugen. „Die Speiseröhre blutet, und dennoch können sie nicht aufhören zu trinken“, fand der Chefarzt ein drastisches Beispiel.
„Die Speiseröhre blutet, und dennoch können sie nicht aufhören zu trinken.“
Dr. Nedal Al-Khatib, Chefarzt
Doch was passiert bei einer Substanz-gebundenen Sucht im Gehirn? Da spielt das Belohnungssystem im Gehirn die ausschlaggebende Rolle. „Sammeln Sie Punkte mit einer Pay-Back-Karte? Sammeln Sie Rabatt-Coupons?“, fragte der Referent seine Zuhörer im Festsaal. Auch diese aktvierten das Belohnungssystem. „Wir fühlen uns belohnt, wenn wir die Punkte auf dem Kassenbon gutgeschrieben sehen.“ Die Werbung habe das schon vor vielen Jahren entdeckt und setze es gezielt ein.
Das Problem bei der Sucht: Die 100 Milliarden Gehirnzellen jedes Menschen merkten sich die Auswirkungen. Dass man gelassen wird nach einer Zigarette, beschwingt nach Kokain. Es entstehe ein Suchtgedächtnis. „Eine Suchterkrankung ist also keine fehlende Willensstärke, es ist eine Fremdsteuerung.“
Wie gelingt der Ausstieg?
Wie gelingt der Ausstieg aus dem zerstörerischen Suchtkreislauf? In der Klinik von Chefarzt Dr. Nedal Al-Khatib startet die erste Phase mit einer 15-tägigen Entgiftung. Dann stelle man Kontakt zu Suchtberatungsstellen her, zu Caritas, Diakonie, Kreuz-Bund, „Strohhalme“ oder anderen kirchlichen Trägern. Wichtig sei die Eigenmotivation des Patienten: Kommt er freiwillig oder auf Druck von Familie, Gericht, Führerscheinstelle? „Manche sitzen nur ihre Tage ab – das wollen wir ändern“, zeigte sich der Chefarzt nach zweistündigem Gesundheitsgespräch zuversichtlich.