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SCHWÜRBITZ/DARMSTADT: Nach der Flucht: das erste Weihnachten in Schwürbitz

SCHWÜRBITZ/DARMSTADT

Nach der Flucht: das erste Weihnachten in Schwürbitz

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    Wolfgang Paul zu seiner Kommunion in Schwürbitz.
    Wolfgang Paul zu seiner Kommunion in Schwürbitz. Foto: Heinz Fischer

    Wolfgang Paul, geboren am 13. November 1940 in Breslau, lebt seit 50 Jahren in Darmstadt. Er war dort bis zum Ruhestand als Psychologischer Psychotherapeut tätig. Nach Schwürbitz kam er im März 1945 zusammen mit Mutter und Schwester nach ihrer Flucht vor der Roten Armee aus Breslau, im heutigen Polen. Wolfgang Paul erzählt, was er bei seiner ersten Weihnacht in Schwürbitz erlebte:

    „Wir hatten nichts, außer dem, was wir an Kleidern auf dem Leibe trugen, und waren vollständig auf Hilfe von anderen angewiesen. Auch in Schwürbitz waren die staatlichen Behörden nicht auf Flüchtlinge vorbereitet, denn von der Parteiführung war es strikt untersagt, von einer militärischen Lage, die eine Flüchtlingswelle auslösen könnte, zu sprechen. Wir standen schließlich kurz vor dem „Endsieg“.

    Und so musste die Versorgung und Unterbringung der Menschen hastig improvisiert werden.

    Reichlich Hilfe von den Nachbarn

    So erhielten wir, auch nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen und dem Zusammenbruch aller staatlichen deutschen Organisationen, Unterstützung und Hilfe vor allem durch unsere neuen Nachbarn, die „Einheimischen“, wie sie von den Unseren genannt wurden. Wir erhielten diese Hilfen reichlich, sonst wären wir verhungert und psychisch zu Grunde gegangen.

    Da ich gerade mal fünf Jahre alt war, habe ich natürlich keine generellen Erinnerungen mehr. Doch es gibt ein Ereignis aus dem Jahre 1945, an das ich mich sehr detailliert erinnere und das für mich wohl von großer Bedeutung war, sonst hätte ich es nicht so genau in meinem Gedächtnis bewahrt.

    Besondere Bedeutung

    Es war Weihnachten, der 24. Dezember 1945, der Heilige Abend. Meine Eltern waren nicht besonders religiös erzogen, sie gingen zur Kirche und hielten sich auch sonst an kirchliche Gebote und Verbote, aber ein religiöses Leben führten sie ansonsten nicht. Weihnachten kam allerdings eine besondere Bedeutung zu, vor allem natürlich wegen des Tannenbaums und des Lichterglanzes und der Geschenke, die vor allem die Kinder bekamen. Die Jungen erhielten ein Schaukelpferd oder mindestens ein Steckenpferd aus Holz, die Mädchen natürlich eine Puppe.

    Bestimmt wurde die Feier des Weihnachtsfestes in den Kriegsjahren 1939 bis 1944 in erheblichem Maße durch die nationalsozialistische Propaganda.

    Sie zelebrierte vor allem den Heiligen Abend, übertragen durch den Rundfunk über die Volksempfänger, für alle Volksgenossen von Murmansk bis nach Kreta, von der Ostfront bis zum Atlantikwall, in pompöser Art und Weise.

    Das machte auf viele Menschen, so auch auf meine Mutter, großen Eindruck und wurde vorbildlich dafür, wie der Heilige Abend zu begehen sei.

    Kein Baum, keine Geschenke

    Umso schlimmer war es nun für sie zu erleben, dass es mit diesem wunderschönen Heiligen Abend wohl nichts werden würde. Ein Tannenbäumchen? Woher nehmen. Geschenke? Ebenso. Die traditionelle schlesische braune Soße mit Sauerkraut und verschiedenen Würstchen? Nein, das würde ein sehr bedrückender Heiliger Abend werden. Vielleicht konnte sie doch kleine Geschenke von irgendwoher ergattern?

    Wolfgang Paul.
    Wolfgang Paul. Foto: Heinz Fischer

    Nun erinnere ich mich genau, dass am späten Vormittag des 24. Dezember 1945 nicht das Christkind im golddurchwirkten Seidenkleid und auch nicht der Weihnachtsmann im roten Mantel, sondern der Pfarrer Zeltinger in schwarzer Soutane die steile Treppe zu der kleinen Kammer in dem Haus, in dem wir notdürftig wohnten, heraufkam. Er war ein großer, korpulenter Mann, keuchend und schnaufend. Wie ich erst durch Zufall Jahrzehnte später erfuhr, war er einige Jahre im Konzentrationslager Dachau inhaftiert gewesen. Er litt wahrscheinlich noch an den Folgen der Haft und starb auch zwei Jahre später.

    Mehl und Fett

    In den Händen hielt er eine Tüte mit Mehl und einen Klumpen Fett, eingepackt in ein grobes Papier. Er hatte keine Tasche, keinen Rucksack, ich erinnere mich genau. Er rief nach meiner Mutter und gab ihr Mehl und Fett. Wie es weiterging, weiß ich nicht mehr, wie er sich verhielt, was er sagte. Meine Mutter zauberte jedenfalls aus Mehl und Fett und vielleicht noch anderen kleinen Zutaten einen Kuchen. Das war unser Heiligabendessen, es vertrat die in Breslau übliche braune Pfefferkuchensoße, und ich weiß noch, dass es ein sehr schöner Abend wurde.

    Ob wir noch zur Mitternachtsmette gingen, weiß ich schon nicht mehr. Einem damals Fünfjährigen möge man das verzeihen. Ich weiß aber, dass dieser Besuch des Pfarrers von großer Bedeutung für mich war, sonst hätte er sich nicht mit vielen Details in mein Gedächtnis eingeprägt.

    Ein hochverehrter Mann

    Pfarrer Zeltinger war im katholischen Teil von Schwürbitz ein hochverehrter Mann. Denunziert bei der Gestapo wurde er dennoch von einem Mitglied seiner Gemeinde, wahrscheinlich von unserer Hauswirtin, regelmäßige Kirchgängerin und Kommunion-Empfängerin. Er hat wohl, ohne dass mir das damals bewusst war, mich in den kommenden Jahren sehr beeinflusst, im Religionsunterricht, bei der Kommunionvorbereitung, als Messdiener.

    Ich glaube aber, dass das Weihnachtsgeschenk des Pfarrers, Mehl und Fett, vor allem sein Besuch bei uns armen Flüchtlingen, meinen allmählich sich entwickelnden Geist geöffnet hat für die Annahme der christlichen Lehre und des christlichen Glaubens, empfänglich für den darin bestehenden inneren Reichtum und die ganze damit verbundene Schönheit christlich-abendländischer Kultur.“

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