Auf der Suche nach Ruhe und Abenteuer steuert Harald Pülz sein Auto an der Eisenbahnbrücke vorbei. Mit etwa 100 Stundenkilometern donnert ein roter Regionalzug Richtung Bahnhof. Darin sitzen Menschen auf dem Weg nach Hause, zur Arbeit oder in den Urlaub. Die Landschaft rast an ihnen vorbei: Häuser, große Fabriken, in allen Sommerfarben leuchtende Wiesen. Und mittendrin der Main, sich schlängelnd durch Industrie und Natur.
Genau dorthin möchte der 40-Jährige. Vor dem Bootshaus macht er den Motor seines Autos aus, dann ist alles ruhig. Er steigt die Holzrampe hinauf auf die Veranda. Das Haus steht auf Stelzen. Wenn der Fluss bei Hochwasser über das Ufer tritt und die duftende Wiese und die Feuerstelle überspielt, dann passiert dem wertvollen Inventar nichts.
Pülz öffnet die Eingangstür aus Holz und betritt das Bootshaus, bald erklingt Musik aus einem alten Radiogerät. „Ruderverein Lichtenfels 1924“ steht über dem Türrahmen. Wer ein paar Schritte hineingeht, vorbei an Tischen und Stühlen und durch die Umkleide, der steht plötzlich in einer großen Halle. Nur wenig Tageslicht erreicht den Raum, es riecht nach altem Holz. Kanadier und Kajaks türmen sich auf Haltevorrichtungen entlang der Holzplanken. In Gelb, Grün, Rot, Orange und Blau, für zwei Personen und als Einsitzer, für Anfänger und erfahrene Wildwasserfahrer.
Immer noch der „Zwerch“
Am Mittwoch um 17 Uhr trifft sich hier die Jugendgruppe. Dann schnappen sie sich ein Kajak und tragen es die Wiese hinunter zum Main. Harald Pülz ist ihr Trainer und Betreuer. „Mal sind wir mit zwölf Leuten unterwegs, ein anderes Mal auch nur zu dritt“, sagt Pülz, den alle nur „Zwerch“ nennen, im Redaktionsgespräch.
Elf Jahre war er alt, als er seine ersten Paddelversuche im Kajak unternahm. Sein damaliger Jugendtrainer Klaus Bauer, der heutige 1. Vorsitzende des Rudervereins, verpasste ihm den Spitznamen „Zwerch“. Heute, 29 Jahre später, nennt ihn seine Jugendgruppe immer noch so.
Freundschaften fürs Leben
Die anderen Kajakfahrer von damals sind heute noch seine Freunde, bloß wohnen sie nun im ganzen Land verteilt. Vor allem zu Vereinsfeiern reisen immer auch ein paar Ehemalige an, dann setzen sie sich ins Kajak und gleiten über den Fluss. Ganz wie früher.
Die jüngsten Paddler der Jugendgruppe sind acht Jahre alt, die ältesten 18. „Man sollte nur schwimmen können“, sagt Pülz. Den Rest bringt er den Kindern dann bei.
Am Einstieg fließt der Main ganz langsam. Die Kajakfahrer steigen in ihre Boote und paddeln gemeinsam zum Ortswiesensee. Dort trainieren sie die sogenannte Eskimo-Rolle, so dass sich jeder wieder aufrichten kann, wenn er mit dem Kajak umkippen sollte.
Mitten in der Natur, noch in der Stadt
Auf den ersten Blick ist alles ganz ruhig hier am See, so nah dran an der Stadt, aber doch so weit weg vom lauten Alltagstrubel. „Man ist mitten in der Natur, obwohl man noch in der Stadt ist“, beschreibt Harald Pülz das Schöne am Kajakfahren. „Man kann hier komplett abschalten.“
Wer genauer hinsieht, der erkennt in der Stille aber doch viel Leben: Kleine Wasserhüpfer springen am Seeufer, im Schilf surren Libellen. Zierliche Vögel sitzen auf den Bäumen und trillern schrille Töne. „Der Main ist einfach ein Flussparadies“, sagt Harald Pülz.
„Das gibt einen richtigen Adrenalinkick. Aber man kann alles selbst steuern, nicht so wie in der Achterbahn.“
Wer die Grundlagen des Kajakfahrens beherrscht und das Abenteuer sucht, kann mit ihm flussaufwärts fahren bis zum Michelauer Wehr. „Die Meisten wollen Wildwasser fahren“, erzählt der Mittelschullehrer. Auch er fährt am liebsten im schnellen Wasser - die Begeisterung ist ihm anzusehen, wenn er davon erzählt. „Das Michelauer Wehr ist einzigartig in Oberfranken“, sagt er. Seine Jugendgruppe kann dort üben, wie man durch schnellfließendes Wasser manövriert.
Spaziergänger, die zufällig am Wehr vorbeikommen, bleiben dann stehen, um die Kajakfahrer bei ihren Übungen zu beobachten. Davor und dahinter fließt der Main ganz sanft, aber an der Floßgasse beschleunigt das Wasser, es wirbelt und spritzt. „Das gibt einen richtigen Adrenalinkick. Aber man kann alles selbst steuern, nicht so wie in der Achterbahn“, sagt Harald Pülz.
Weil das Manövrieren im schnellen Wasser den meisten Teilnehmern so viel Freude bereitet, bietet der Ruderverein Lichtenfels immer wieder Ausflüge zu Wildwasserflüssen im Ausland an. Im Laufe der vergangenen Jahre reisten die Vereinsmitglieder unter Leitung von Vorsitzendem Klaus Bauer nach Kanada, Neuseeland und in die Pyrenäen.
Harald Pülz lächelt jetzt: „So erreicht man Orte, an denen sonst keiner unterwegs ist. Die Einheimischen empfangen uns dort immer ganz freundlich und überrascht, weil normalerweise eben niemand vorbeikommt.“ Aber auch Wanderfahrten, beispielsweise auf der Regnitz durch Bamberg, stehen im Vereinsprogramm.
Eingeschworene Truppe
Die Sonne steht jetzt tief über Lichtenfels und dem Main. „Wir sind wirklich ein eingeschworener Trupp“, sagt Pülz und blickt von der Veranda hinunter auf die verkohlten Reste des Johannifeuers. Wenn sie die Kajaks aus dem Wasser geholt und im Bootshaus verstaut haben, setzen sie sich manchmal noch zusammen und genießen die Ruhe und die schöne Natur am Fluss.
Spätestens wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwindet, machen sich der Trainer und die Jugendlichen auf den Weg nach Hause. Pülz dreht den Zündschlüssel um, der Motor seines Autos springt an. Dann fährt er wieder an der Eisenbahnbrücke vorbei, durch das rechte Fenster sieht er das Weidenlabyrinth. Es ist nicht besonders groß, aber wer dort hineingeht, sieht nur noch Pflanzen und hört kaum Straßenlärm. Kinder vergessen die Zeit hier drin, so wie die Kajakfahrer auf dem Fluss.
Harald Pülz gibt Gas, lässt den Fluss hinter sich und das Weidenlabyrinth. Und dann sind es nur noch wenige Minuten bis nach Hause.