Wort zur Besinnung
„Mauer“ – Was fällt Ihnen ein, wenn Sie dieses Wort hören, oder hier lesen? Die jahrhundertealte „Große Mauer“ in China, von der immer wieder Abbildungen in Zeitungen oder im Fernsehen zu sehen sind? Die „Berliner Mauer“, die von 1961 bis 1989 Berlin geteilt hat, Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik gewesen ist und an der beim Fluchtversuch viele ihr Leben verloren haben? Oder fällt Ihnen die „Klagemauer“ in Jerusalem ein, die einzige erhaltene Einfassungsmauer des historischen Tempelgeländes, in deren Umfeld es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Israelis und Palästinensern kommt?
Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie bei dem Wort „Mauer“ derzeit an eine andere denken; an eine, die noch gar nicht gebaut, deren Bau erst geplant und über deren Finanzierung noch nachgedacht wird; die aber doch zur Zeit Gesprächsthema in allen Teilen der Welt ist: die mehr als 3000 Kilometer lange Mauer zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Mexiko, die der neugewählte amerikanische Präsident zu bauen entschlossen ist. Auf dieses Vorhaben kann man verschieden reagieren: erstaunt, belustigt, spöttisch .... vielleicht auch sarkastisch, zumal wenn man hört, dass die Mexikaner den Bau der Mauer an ihrer Grenze auch noch bezahlen sollen.
Allerdings: Wenn einem bei solchen Nachrichten auch zum Kopfschütteln oder zum Geradeheraus-Lachen zumute werden kann, sollte man mit seinem Urteil doch vorsichtig und zurückhaltend sein.
Denn das Verhalten des Präsidenten Trump ist leider nicht so außerge-wöhnlich und einmalig, wie es auf den ersten Blick vielleicht erscheint. Wer sich darauf besinnt, dass man zum Bau von Mauern nicht unbedingt Ziegelsteine und Mörtel, Beton und Stahl braucht, und sich mit offenen Augen in der Welt umsieht, der bemerkt und erkennt an vielen Stellen ein ganz ähnliches Verhalten.
Nicht nur Präsidenten und Staatschefs bauen Mauern. Wie viele immaterielle Trennwände werden allenthalben und tagtäglich von Menschen errichtet!
Sie wachsen – wie von Geisterhand gebaut – in Familien und Verwandtschaften im Lauf von Monaten und Jahren auf; entfremden Familienmitglieder und Verwandte einander, verurteilen sie zu zunehmender Sprachlosigkeit und immer größerer Einsamkeit.
Da bauen Menschen eine Mauer zu einem Nachbarn auf; reden nicht mehr mit ihm, grüßen ihn nicht mehr, wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben – und das nur, weil dieser Nachbar mit seinem Nachbarn auf der anderen Seite seines Grundstücks spricht, den die Verstummenden als ihren Feind betrachten. (Da dürfen – wie für Mexiko geplant – auch andere die Kosten für das eigene Verhalten tragen).
Das Land und die Welt wäre von einem großen Geflecht von Mauern überzogen, wenn all die unsichtbaren Trennwände, die in Hausgemeinschaften, Vereinen, Gemeinden, in Volk und Land bestehen, mit einem Schlag sicht-bar würden.
Als Menschen – und zumal als Christen – sind wir herausgefordert, diesem uns – wie angeborenen – Hang zum Mauerbau zu widerstehen; uns nicht abzuwenden und abzuschotten von Andersdenkenden und Andersgläubigen, sondern auf sie zuzugehen und das Gespräch mit ihnen zu suchen.
Der Widerstand gegen diese Versuchung zum Mauernbauern ist gerade jetzt besonders wichtig, da so viele Flüchtlinge und Asylsuchende – Aus-länder, Menschen anderer Religionszugehörigkeit – in unser Land kommen. Da dürfen wir nicht dadurch zwischen denen und uns Mauern hochziehen, dass wir alle Migranten für Kriminelle oder potenzielle Attentäter halten.
Natürlich ist Wachsamkeit geboten. Natürlich erfordert der Schutz der Ge-sellschaft die Kontrolle der Ankömmlinge und die Überwachung von „Ge-fährdern“. Und sicher wäre zu wünschen gewesen, dass am Eingang zum Weihnachtsmarkt in Berlin eher Barrikaden aufgebaut und Poller aufgestellt worden wären.
Die öffentliche Sicherheit ist Sache des Gemeinwesens; die können wir nicht gewährleisten. Aber jedermann kann Gewalt haben über sein Herz und kann Widerstand leisten, wenn der Drang zum Bau unsichtbarer Mauern über ihn kommen will. Je mehr Menschen diesem Drang entschlossen widerstehen, um so eher und um so mehr können vermutlich wirkliche Mauerbauten – wie der in Mexiko – und Grenzzäune und Sperrzonen unnötig und überflüssig werden.
Gerhard Hellgeth,
Pfarrer im Ruhestand