Schon lange hat Ursula Rühr den silbernen Koffer nicht mehr geöffnet. Aus einer Ecke ihres Wohnzimmers zieht sie ihn nun wieder hervor. Nacheinander löst sie die einzelnen Schnallen an dessen Vorderseite. Und holt heraus, was sich darin befindet. Dann wird die 85-Jährige nachdenklich. „Hierauf haben wir alle unsere Filme gedreht“, sagt sie. In ihren Händen hält sie eine alte „Super 8“-Handkamera.
Super 8-Kamera
Filmliebhabern dürfte dieser Name nicht unbekannt sein. Exemplare wie diese hatten vor allem in den 1970-er und 1980-er Jahren große Beliebtheit unter Hobbyfilmern. Sie filmten noch – anders als moderne Digitalkameras – auf klassischem Zelluloid. Produziert werden die „Super 8“-Kameras heutzutage kaum noch.
Zahlreiche Kurz- und elf Langfilme, vor allem Landschaftsaufnahmen und Dokumentationen, hat die Michelauerin gemeinsam mit ihrem Ehemann Erwin Rühr damit eingefangen. Seit seinem Tod führt Ursula Rühr sein filmisches Erbe fort, indem sie die Filme regelmäßig vor Publikum zeigt.
Für ihre Arbeit bekamen die Rührs sogar die Goldene Kamera verliehen. Zwar nicht die im ZDF, aber eine nicht weniger prunkvolle: die vom Michelauer Fotoclub. Dieser wurde im Jahr 1985 ins Leben gerufen.
Eines der Gründungsmitglieder des Vereins war damals Erwin Rühr. Anfangs wollte seine Ehefrau ihn nur bei seinem Hobby unterstützen, bis sie merkte, dass ihr das Filmemachen großen Spaß bereitete. Im selben Jahr trat auch sie dem Verein bei. Die Kameraarbeit und den Schnitt der Filme überließ sie aber doch lieber ihrem Mann, denn „durch seinen Beruf als Korbmacher hatte er ein besonders ruhiges Händchen“, erklärt die Michelauerin schmunzelnd. Sie selbst war für die Nachvertonung und musikalische Untermalung der Filme zuständig.
Wenn dem Regisseur ein Geräusch nicht gefiel, dann entfernte sie es und ersetzte es durch ein neues. In einem Nebenzimmer ihres Hauses hatte sie sich zu diesem Zweck ein kleines Tonstudio eingerichtet. Darin experimentierte sie mit allerlei unterschiedlichen Oberflächen und Werkzeugen, um den passenden Ton mit einem Mikrofon aufzunehmen. Währenddessen sah sie sich stets die zu vertonende Szene an. Schließlich mussten Bild und Ton synchron sein. „Zum Beispiel steigt in einem Film jemand mit schweren Stiefeln eine Treppe hoch. Bei jedem Schritt habe ich mit einem Hammer auf eine Holzplatte geschlagen“, erinnert sich Rühr. Für die geeignete Musik suchte sie sich Schallplatten aus und spielte diese ein.
Eineinhalb Jahre bis zum fertigen Film
„Das Filmemachen war damals ziemlich aufwendig“, findet sie und zählt auf, was dafür alles erforderlich war: Einer ersten Recherche über ein bestimmtes Thema folgte die Ausarbeitung eines Drehbuchs. Auf der Suche nach Schauplätzen, die interessante Aufnahmen bieten, fuhren die Rührs beispielsweise in die Lüneburger Heide, die Alpenregion, sogar nach Slowenien. Als der Film schließlich im Kasten und entwickelt war, folgte der Schnitt – die Zusammensetzung der einzelnen Szenen zu einem Ganzen.
Zu einer guten Dokumentation gehört noch ein Erzähltext, der über das Gesehene informiert. Diesen sprach stets Erwin Rühr ein. „Je nach Art des Films dauerte es bis zu eineinhalb Jahre, bis wir ihn fertigstellten“, fasst die Rentnerin zusammen.
Ein Aspekt, der sich mit fortschreitender Technik sehr verändert hat: „Mit den heutigen Digitalkameras geht es schneller, einen Film zu machen“, meint die Michelauerin. Aber ohne das Wichtigste nütze selbst die beste Ausrüstung nichts: das Motiv.
Ehrenamtlich am Projektor
„Die Faszination der Bergwelt“, „Harmonie aus Stein und Wasser“, „Der Main und der Wein“ – diese Titel machen klar, dass das Ehepaar Rühr leidenschaftliche Landschafts- und Dokumentarfilmer waren. „Es ist wichtig, dass Filme die Wahrheit abbilden. Für mich schaffen das die Dokumentationen am besten“, schildert die 85-Jährige. Auch privat sieht sie sich diese Art Film am liebsten an.
Zurück zum silbernen Koffer und der „Super 8“-Kamera. Diese dienen Ursula Rühr nur noch als Andenken. Neue Aufnahmen macht sie damit keine mehr. Vielmehr schenkt sie ihre Aufmerksamkeit einem anderen Gerät: dem Projektor. Regelmäßig hält sie Filmvorführungen bei Vereinen und Organisationen. Bei einigen, beispielsweise dem Altenwohnheim in Redwitz, ist ihr Programm schon Tradition.
„Zum Beispiel steigt in einem Film jemand mit schweren Stiefeln eine Treppe hoch. Bei jedem Schritt habe ich mit einem Hammer auf eine Holzplatte geschlagen.“
Ursula Rühr über ihre Arbeit im „Tonstudio“
Kürzlich zeigte sie dem SPD-Ortsverein Michelau einen Film über den Michelauer Holzschnitzer Wolfgang Zwieb sowie den Film „Unsere Gemeinde geht auf Reisen“. Darin besuchten rund 800 Michelauer die Stadt Heidelberg. Und mittendrin Erwin und Ursula Rühr, die alles mit der Kamera verfolgten.
Die Filmvorführungen macht die Rentnerin ehrenamtlich. Seit 2014 ist sie Mitglied bei den „Aktiven Bürgern“ – einer Vereinigung für Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren wollen.
Sorgfältig verwahrt Rühr die Filmrollen. So gut wie alle ihrer Aufnahmen sind noch einwandfrei erhalten. Sie sieht sie immer wieder gerne bei ihren Vorführungen und freut sich, wenn sie auch vom Publikum gut angenommen werden. Vor allem jedoch sind die Filme für sie eines: kostbare Erinnerungen an die Vergangenheit. Und an ihren Mann.