„Lasst unseren Verstorbenen ihre Blumen“: Dieser Satz ist ebenso empfindsam wie aufrüttelnd. Zu lesen ist er auf einem kleinen Schild mitten auf einem Grab. So oder ähnlich lauten Appelle, die in frischer Erde auf einigen der letzten Ruhestätten im städtischen Friedhof in Lichtenfels angebracht sind. Alle liegen nahe dem Eingang Rackensteiner Straße. Dort werden derzeit massiv Pflanzen und Blumen von Gräbern geklaut. Die Erde auf einigen Gräbern ähnelte bei einem Besuch am Dienstag einer Miniatur-Vulkanlandschaft, überzogen mit kleinen Kratern.
„Der Blumendiebstahl sorgt auf dem Friedhof für große Aufregung und Gesprächsstoff“, schrieb Karin Fischer dieser Redaktion. Von einem Grab, das sie pflegt, seien zwischen Freitag 16 Uhr und Samstag 11 Uhr mehrere Gräser gestohlen worden. „Von fast jeder herbstlichen Neuanpflanzung werden über Nacht Pflanzen vom Grab entwendet“, so Fischer weiter. Sie hat in leidvoller Erfahrung das Grab und die neuesten Diebstähle mit Fotos dokumentiert – davor und danach.
„Von fast jeder herbstlichen Neuanpflanzung werden über Nacht Pflanzen vom Grab entwendet.“
Karin Fischer, Lichtenfels
Die Lichtenfelserin ist nicht die Einzige, die sich über den Grabfrevel aufregt. „Es ist fürchterlich“ sagt eine Frau, die gerade ein Grab bepflanzt. Die Klauerei geschehe nun schon seit Jahren. Auch das von ihr betreute Grab sei schon betroffen gewesen. Von Angehörigen benachbarter Gräber habe sie ähnliche Vorfälle erfahren. Besonders dreiste Diebe hätten zum Beispiel einen ganz frischen Blumenstrauß aus einer Vase gestohlen und durch alte Blumen ersetzt.
Reinhard Scherer pflegt zusammen mit seiner Tochter das Grab seiner Frau. „Am Montag haben wir es bepflanzt , am Dienstag war es abgeräumt“, sagt er dieser Redaktion auf Nachfrage. „Ich überlege mir schon, ob ich das Grab über Allerheiligen so lasse, damit Besucher sehen, was hier passiert“. Scherer hat ein kleines Schild platziert: „Hier war wieder ein Dieb tätig“, hat er darauf geschrieben. Einige Grabstätten in der Nähe seien auch schon Opfer des Pflanzendiebes geworden, sagt Reinhard Scherer weiter.
Zwei Tage nach Beisetzung geplündert
Eine besonders traurige Erfahrung musste Petra Böhm machen. Vor kurzem starb ihr Vater. Auf dem städtischen Friedhof fand eine Urnenbeisetzung statt. „Zwei Tage später schon haben Teile aus Pflanzschalen gefehlt“, berichtet die Tochter. Es seien vor allem die farbenfrohen Grabbeigaben gewesen, langschilfige Gräser, aber auch Buchsbäumchen. Inzwischen hat auch Petra Böhm erfahren, dass etliche Gräber im Umfeld betroffen sind. Ihr sei ein Fall bekannt, wo bei einem Grab sogar regelmäßig das Licht herausgeklaut wird. „Der oder die Täter klauen in der Regel Dekoratives. Die einfachen Sachen lassen sie stehen“, so die junge Frau.
Claudia Grießer von der gleichnamigen Gärtnerei in Mistelfeld hat von etlichen Kunden erfahren, was da im Moment auf dem Friedhof in Lichtenfels passiert. Diebstähle zu Pflanzzeiten gebe es zwar leider alljährlich auf vielen Friedhöfen. „In Lichtenfels ist es derzeit aber ganz extrem. Was in dem betroffenen Bereich im Moment geklaut wird, ist gewaltig“, sagt die Unternehmerin. „Eine Kundin hat am Montag ihre bepflanzte Schale für den Friedhof abgeholt. Am Donnerstag war die Schale ausgeplündert“, so Claudia Grießer.
Sie spreche mit vielen Kunden, die wegen Ersatz der gestohlenen Pflanzen zu ihr kommen. „Die Angehörigen wollen doch gerade jetzt vor den Trauertagen, dass die Gräber schön bepflanzt sind“, sagt Grießer. Sie ist der Überzeugung, dass auch andere heimische Gärtnereien von ihren Kunden ähnlich bedrückende Nachrichten hören.
Reinhard Scherer, der vom Unwesen auf dem Friedhof bereits mehrfach betroffen worden ist, hat Pflanzdiebstähle vom Grab seiner Frau zwei Mal angezeigt. Jedes Mal habe die Staatsanwaltschaft sechs Wochen später mitgeteilt, dass das Verfahren eingestellt sei. Bei der Polizei habe er den Einkauf der später gestohlenen Pflanzen dokumentieren müssen, sagt Scherer weiter. „Wer hebt sich denn Quittungen von diesen Pflanzen auf?“, frage er sich.
Andere Betroffene verzichten gar auf den Gang zur Polizei, weil sie der Meinung sind, dass dies wenig bringt: „Das ist vergebene ,Liebesmüh‘“, meint etwa Petra Böhm. Scherer hat ein ziemlich klares Bild von dem Täter. „Das ist ein Fachmann oder ein Hobbygärtner, der sich mit Pflanzen gut auskennt“, sagt er. Die geklauten Pflanzen setzte der Täter entweder auf anderen Gräbern wieder ein oder er verwende sie privat.
Stadt: Keine auffällige Zunahme
„Viele Betroffene sind der Meinung, dass die Stadt Lichtenfels endlich Maßnahmen ergreifen muss“, sagt Karin Fischer. Reinhard Scherer war persönlich bei Bürgermeister Andreas Hügerich. Er meint zum Beispiel, dass man dem Dieb mit Hilfe von Peilsendern in Pflanzenballen auf die Spur kommen könnte.
Die Stadt Lichtenfels teilt auf Nachfrage mit, dass ihre Handlungsmöglichkeiten begrenzt seien, vorsätzliche Straftaten zu verhindern. Insbesondere dann, wenn Grabstätten neu bepflanzt werden, seien Friedhöfe sehr belebt, weil die Angehörigen ihre Grabstätten schmücken. „Hier zu überwachen, inwieweit Grabschmuck entwendet wird, ist nachvollziehbar äußerst schwierig“, so Pressesprecher Sebastian Müller. Das Friedhofspersonal vor Ort habe nicht die Zeit, Überwachungs- und Kontrollfunktionen intensiver zu übernehmen. Es gebe zwar einen Friedhofswart. Der sei allerdings mit seinen Mitarbeitern mit laufenden Arbeiten ausgelastet. Friedhöfe seien großflächig und nicht ständig kontrollierbar. „Es würde sicher nicht der Würde dieser Orte und dem Willen der Friedhofsbesucher entsprechen, ständig überwacht zu werden,“ so Müller weiter. Wenn etwas verdächtig erscheine, werde dem natürlich nachgegangen.
„Es würde sicher nicht der Würde dieser Orte und dem Willen der Friedhofsbesucher entsprechen, ständig überwacht zu werden.“
Müller teilt weiter mit, dass es derzeit keine „auffällige Zunahme an gemeldeten Diebstählen“ gebe. Betroffene sollten sich an die Polizei wenden und könnten bei begründetem Verdacht auch die Stadt informieren. Die Stadt gehe davon aus, dass die Diebstähle in den Tageszeiten begangen werden. Nachts sei es auf dem Friedhof dunkel und ein Dieb müsse seine Beute sehen können.
Schlecht einzusehen
Der Täter auf dem Friedhof in Lichtenfels ist offenbar bisher schlau genug, sich nicht erwischen zu lassen. Der etwas abgelegene Friedhofsteil am Eingang Rackensteiner Straße, durch den auch Hecken gezogen sind, scheint sich für Pflanzendiebstähle gut zu eignen. „Dieser Bereich ist schlecht einzusehen“, sagt Reinhard Scherer.
Der Friedhof ist rund um die Uhr geöffnet. Die Stadt lehnt eine Schließung bei Einbruch der Dunkelheit ab. „Es würde mit Sicherheit dem Willen vieler Friedhofsbesucher nicht entsprechen, wenn die Friedhöfe mit Einbruch der Dämmerung, also bald mit Ende der Sommerzeit gegen 16 Uhr, geschlossen werden,“ so Sebastian Müller.
„Die Angehörigen sind traurig und wütend zugleich“ sagt Karin Fischer. Claudia Grießer spricht von einer „großen Respekt- und Pietätlosigkeit“. „Das möchte man niemanden zumuten“, schildert Petra Böhm ihre Erfahrungen nach der Beisetzung ihres Vaters. „Gibt es denn so etwas wie Moral überhaupt noch?“ frage sie sich. „Die Täter bestehlen die Toten“.