Sie ist die prominenteste Sozialdemokratin im Landkreis, war jahrelang stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Landtag und Generalsekretärin der Bayern-SPD. Kein Wunder, dass die aktuellen Ereignisse in der Führung ihrer Partei die im Herbst nicht mehr kandidierende Landtagsabgeordnete Susann Biedefeld nicht kalt lassen. Gegenüber dieser Redaktion spricht die Altenkunstadterin über Martin Schulz, Andrea Nahles und ob sie beim Mitgliederentscheid für eine Große Koalition auf Bundesebene stimmen wird.
Frage: Sprechen die Ereignisse in der Parteispitze der SPD für eine gelebte innerparteiliche Demokratie, oder herrscht da nur Chaos pur vor?
Susann Biedefeld: Beides. Gelebte Demokratie, weil diese Partei, einmal abgesehen von den letzten Tagen, inhaltlich wieder richtig lebendig diskutiert und sich auseinander gesetzt hat mit politischen Inhalten. Inhalten wie dem Koalitionsvertrag, dem Ja oder Nein zur Großen Koalition. Auf der anderen Seite gab es ein Stück weit dieses Chaos, ausgelöst durch die unnötige Personaldebatte, die das Inhaltliche überschattet.
Martin Schulz wurde vor rund einem Jahr mit 100 Prozent Zustimmung zum Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten gewählt. War es im Nachhinein ein Fehler, ihn zum Spitzenkandidaten zu machen?
Biedefeld: Es war damals eine gute Entscheidung. Martin Schulz hat enorme Ausstrahlung und Kraft gehabt, die Partei hat enorm in den Umfragen zugelegt. Aus damaliger Sicht war es kein Fehler, im Nachhinein wissen alle immer alles besser.
Was ist Martin Schulz für eine Person, für ein Mensch?
Biedefeld: Ich kenne ihn ja aus verschiedenen Treffen zu meiner Zeit als Generalsekretärin und stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende im Landtag. Er ist ein sehr offener und sehr ehrlicher Mensch. Er weiß, was er will, und ist ein Ur-Sozialdemokrat. Schulz lebt das, wofür die Sozialdemokratie steht.
Ist er zu ehrlich für den Posten des Parteivorsitzenden?
Biedefeld: Parteien können zur Schlangengrube werden, vielleicht war er wirklich zu ehrlich.
Hätte sich Schulz seine Aussagen nach der verlorenen Bundestagswahl, in denen er sowohl eine Große Koalition als auch eine Ministeramt unter Kanzlerin Angela Merkel ausgeschlossen hat, sparen sollen?
Biedefeld: Solche Aussagen, egal von wem, sind auf Bundesebene immer problematisch. Ich glaube, Martin Schulz war ein Stück weit zu ehrlich und an der einen oder anderen Stelle schlecht beraten. Vielleicht gibt es auch welche, die ihn bewusst ins Messer haben laufen lassen.
Wer könnte das gewesen sein?
Biedefeld: Martin Schulz war ja nicht alleine von SPD-Seite bei den Koalitionsverhandlungen. Wenn man einen Koalitionsvertrag ausgehandelt hat, in dem zweifelsohne viel Positives drinsteht, verstehe ich nicht, warum man dann am Ende der Verhandlungen eine Personalentscheidung treffen muss: „Ich lege den Parteivorsitz nieder. Ich übergebe das Amt an Andrea Nahles. Ich werde Außenminister.“ Da war er ja nicht alleine, da waren viele um ihn herum. Wo war Andrea Nahles? Wo war Olaf Scholz? Wo waren sie, die ihn ein Stück weit gewarnt haben vor so einer Strategie?
Die Schwester von Martin Schulz hat sich am Wochenende in einem Interview geäußert, Nahles und Scholz hätten ihren Bruder ins Messer laufen lassen.
Biedefeld: Es kann jedenfalls den Eindruck erwecken.
Nach Medienberichten hätten sich Martin Schulz und Andrea Nahles darauf geeinigt, dass sie seine Nachfolgerin wird. Hat das nicht ein „Geschmäckle“ von Hinterzimmergeklüngel?
Biedefeld: Ich bin fassungslos, traurig, wütend. Ich kann gar nicht schildern, was ich spüre, es ist echt ein Wechselspiel der Gefühle. Ich finde es unglaublich, wie hier mit der Funktion eines Parteivorsitzes umgegangen wird, den ein Mensch wie Willy Brandt innehatte. Es ist unglaublich, wie man diesen Posten, egal ob zwischen einer kleinen Gruppe oder zwei Personen, hin und her schachert. Die SPD ist doch – bei allem Respekt – kein Kleintierzuchtverein.
Andrea Nahles fiel in der letzten Zeit mit Aussagen wie „Ab morgen gibt's auf die Fresse“, „Bätschi, sag ich da nur“ oder einem Pippi-Langstrumpf-Liedchen im Bundestag auf. Hat sie das Zeug zur SPD-Vorsitzenden?
Biedefeld: Für mich ist sie untragbar. Ich kenne sie aus unseren Juso-Zeiten. Da ist so ein Verhalten angebracht, da kann man solche Sprüche klopfen, da kann man in die Debatte gehen mit entsprechend hartem Tobak. Aber das kann man nicht machen als Vorsitzende einer Bundestagsfraktion, und schon gar nicht, wenn man Parteivorsitzende werden will.
Also stehen Sie dieser Personalie eher ablehnend gegenüber?
Biedefeld: Das soll die Partei entscheiden. Ich bin ja nur eines von über 460 000 Mitgliedern. Wir haben ein klares Statut, dass nicht ein kleines Grüppchen, weder zwei, vier oder sieben Leute und auch nicht der Parteivorstand entscheiden, wer Parteivorsitzender wird. Und daran sollten wir uns halten. Und was diese Personalie angeht: Ich gehöre nicht zu denen, die jetzt Hurra schreien.
Kommen wir auf den ausgehandelten Koalitionsvertrag: Hat die SPD darin ihre Handschrift hinterlassen?
Biedefeld: Das hat sie definitiv.
Stimmen Sie also im Mitgliederentscheid für eine große Koalition?
Biedefeld: Nein! Wie jedes Mitglied muss auch ich abwägen: Was ist unterm Strich an Ergebnissen herausgekommen? Reicht mir das aus? Reicht es aus, für die Menschen in unserem Land eine gute Politik zu machen? Mir persönlich sind zu viele Punkte drin, über die ich sage: Das geht nicht mit mir!
Welche zum Beispiel?
Biedefeld: Die Obergrenze für Flüchtlinge – die ist nach wie vor unverändert. Familiennachzug nur für 1000 Menschen im Monat. Darüber hinaus soll die Härtefallregelung für den Nachzug gelten. Die gibt es bislang auch schon, und da wurden bislang zirka 100 Menschen im Jahr nachgeholt. Dieses Instrument ist nicht glaubwürdig. Wir haben eine Flüchtlingskonvention, haben klare europäische Vorgaben. Für mich ist es fast schon verfassungswidrig, was zu dieser Thematik im Koalitionsvertrag steht. Ebenfalls inakzeptabel sind die Punkte Gesundheit und Pflege. Natürlich muss man in Verhandlungen immer Kompromisse eingehen. Aber bei der Pflege sind wir das grundsätzliche Problem nicht angegangen.
Wir werden den Notstand nicht lösen, indem wir 8000 neue Pflegekräfte bei einem Mindestbedarf von 50 000 Stellen einstellen. Woher sollen die Leute denn kommen zu diesen Arbeitsbedingungen? Man muss flächendeckende Tarifverträge zwingend einführen, egal, ob für private oder für öffentliche Träger. Schließlich haben wir immer mehr Menschen, die auf Pflege angewiesen sind. Im Koalitionsvertrag ist das Problem viel zu wenig mit Lösungsansetzen angegangen worden.
Kommen wir zum Thema Krankenversicherung. Laut Koalitionsvertrag soll sich eine Kommission um eine Angleichung der Arzthonorare für gesetzlich Versicherte und Privatpatienten bemühen. Sorgt jetzt also die SPD dafür, dass Ärzte mehr verdienen? Müsste das nicht eigentlich die FDP machen?
Biedefeld: Eigentlich schon. Aber ernsthaft: Was die Kommission angeht, kann ich deren Zielsetzung noch nicht erkennen, vielleicht habe ich den Koalitionsvertrag nicht eingehend genug gelesen.
Verliert die SPD mit so einer Politik nicht ihren Stammwähler, den so genannten kleinen Mann, aus den Augen?
Biedefeld: Grundsätzlich geht es doch um die Problematik, dass wir ein Zwei-Klassen-System in der medizinischen Versorgung der Menschen haben. Unser Ziel ist es, dass die Leute unabhängig vom Geldbeutel versorgt werden. Das ist ein ur-sozialdemokratischer Standpunkt. Jeder soll eine gleich gute medizinische Versorgung erfahren, egal, ob er viel oder wenig Geld hat. Doch wie will ich hier Gerechtigkeit herstellen? Mache ich das über Honorarverträge für Ärzte? Ich habe meinen Zweifel daran, ob das der richtige Weg ist, um die Gerechtigkeit in der medizinischen Versorgung zu erreichen. Gut ist hingegen, dass künftig wieder die Krankenkassenbeiträge paritätisch, also zu gleichen Teilen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber, geleistet werden sollen. Auch das ist schon ein Stück mehr Gerechtigkeit!
Sie selbst sind gegen eine Große Koalition – wie wird sich aber Ihrer Meinung nach die Mehrheit der Mitglieder beim Votum entscheiden?
Biedefeld: Ich bin keine Prophetin, aber es wird wohl ausgehen wie beim letzten Parteitag, als 56 Prozent für Koalitionsgespräche gestimmt haben. Auch jetzt wird sich eine knappe Mehrheit für die Große Koalition entscheiden.
Glücklich sind Sie aber damit nicht, oder?
Biedefeld: Bin ich nicht, aber es ist eine demokratische Entscheidung. Ich hoffe, dass sich ganze viele Mitglieder am Votum beteiligen und diese Möglichkeit wahrnehmen. Wir haben dann eine demokratische Entscheidung, Mehrheiten entscheiden, und das muss und kann ich dann akzeptieren.
Wie sehen Sie den Weg der SPD? Was muss die Partei machen, was muss der neue Vorsitzende unternehmen, damit die Partei bei der nächsten Wahl nicht bei 15 Prozent landet?
Biedefeld: Es sind mehrere Sachen, die parallel laufen müssen. Wir dürfen die Fehler aus der letzten Großen Koalition nicht wiederholen. Das heißt, wir müssen unsere Erfolge und unsere Politik, die wir für die Menschen umsetzen, in leicht verständlicher Sprache gut „verkaufen“ – und das nicht Angela Merkel überlassen.
Wir müssen massiv an der Umsetzung dieses Koalitionsvertrages arbeiten. Denn es gab ja Vorhaben, die im letzten Koalitionsvertrag standen und jetzt wieder drinnen stehen, nur mit anderen Worten. Als Beispiel nenne ich da die Grundrente, die hieß 2013 „solidarische Lebensleistungsrente“. Die konnten wir aber nicht umsetzen, da sie von der Union blockiert wurde. Parallel dazu kann es nicht sein, dass wir vor lauter Diskussion um die Große Koalition die Erneuerung der Partei vergessen. Die SPD muss sich inhaltlich und personell völlig neu aufstellen, neue Wege gehen. Sonst werden wir nie mehr mehrheitsfähig und kommen nie mehr in die Situation, den Kanzler zu stellen.
Was meinen Sie mit neuen Wegen?
Biedefeld: Mehr gelebte Demokratie, mehr inhaltliche Diskussionen, Schärfung unseres Profils, mehr zuhören und mehr für die Menschen da sein. Wir müssen uns wieder auf unsere Themen, unsere sozialdemokratischen Werte und die Menschen konzentrieren.