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LICHTENFELS: Warum Kleinkinder kratzen und beißen

LICHTENFELS

Warum Kleinkinder kratzen und beißen

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    „Kinder können den Umgang mit Wut nur lernen, wenn sie Erfahrungen sammeln“: Psychologe Nikolas Auer erklärt, woher aggressive Verhaltensweisen rühren und wie Erziehende reagieren können.
    „Kinder können den Umgang mit Wut nur lernen, wenn sie Erfahrungen sammeln“: Psychologe Nikolas Auer erklärt, woher aggressive Verhaltensweisen rühren und wie Erziehende reagieren können. Foto: Alicia Vetter

    Ben rollt den Spielzeugtraktor friedlich brummend durch den Raum. Da kommt Finn, rempelt den Zweijährigen, beißt ihn in die Hand, tritt nach ihm und nimmt ihm den Traktor weg. Gebrüll erfüllt den Raum, Ben weint, die Erzieherin eilt hinzu und maßregelt Finn. Eine alltägliche Situation in Kinderkrippen, die das Kita-Personal immer wieder vor Herausforderungen stellt und Eltern auch.

    „Was ganz wichtig und entscheidend ist: Beißen, Kratzen, Treten, Schlagen, Haare ziehen, Schubsen, Kaputtmachen – das ist in der Regel ein ganz normales Verhalten bei Kleinkindern“, beruhigt Psychologe Nikolas Auer von der Caritas-Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern. Im Alter von zwölf bis 17 Monaten zeigten rund 80 Prozent der Zweijährigen ein solches Verhalten – in Krippen häufiger als daheim, Jungen mehr als Mädchen, die eher verbal aggressiv auftreten, und Geschwisterkinder öfter als Einzelkinder. Bis zum fünften Lebensjahr sei wieder eine Abnahme zu verzeichnen.

    Ursachen hinterfragen

    Die gute Nachricht: „In den allermeisten Fällen ist es nicht als problematisches aggressives Verhalten zu sehen, sondern als Neugierde, Entdeckungsdrang, Kontaktsuche, Autonomie- oder Aufmerksamkeitsbedürfnis“, erklärt Nikolas Auer. Kleinkinder hauen nicht, weil sie von Natur aus böse sind oder weil ihnen von den Eltern keine Grenzen gesetzt werden. Man müsse sich bewusst machen, dass sich die Kleinsten in der Regel noch nicht richtig verbal mitteilen könnten, weil ihnen Strategien zur Problemlösung fehlten. Meist verschwinde die Aggression mit zunehmender sprachlicher und sozialer Kompetenz, beruhigt der Psychologe.

    Dass die Jüngsten in Krippen kratzen und beißen, sei auch nachvollziehbar, denn hier gebe es fortlaufend Gelegenheiten zu Konflikten um Spielsachen. Meist sei ein solches – auf den ersten Blick aggressives – Verhalten für sie das einzige Kommunikationsmittel. Sie wollten oft nur mitteilen: „Hallo, ich will mit dir spielen!“ Gründe für aggressives Verhalten seien in der Regel unbefriedigte kindliche Bedürfnisse – sozial, emotional, vital oder kognitiv: Das Spektrum reicht dabei von Hunger, Durst, Schlaf und Geborgenheit über Freude, Liebe und Wertschätzung bis hin zu Autonomie, Beteiligung und Selbstvertrauen.

    Deswegen gelte es, die Ursachen zu hinterfragen, auf Augenhöhe und angemessen zu reagieren – eventuell in Worte zu fassen, was das Kind noch nicht kann. „Wenn wir verstehen, warum Kleinkinder so agieren, kochen bei uns nicht gleich die Emotionen hoch“, erklärt Nikolas Auer. Deshalb will er Eltern und Erzieherinnen Wissen vermitteln. Denn es ist klar, dass nicht einfach das Faustrecht gelten kann: „Grenzen müssen eingehalten werden! Da bei den Kleinsten die Impulskontrolle fehlt, müssen wir das von außen regulieren.“

    Der Psychologe geht bei seiner Erklärung auf die Entwicklungsphysiologie und -psychologie ein: So dominiere in den ersten Lebensjahren das „fehlerbehaftete“ limbische System – der stammesgeschichtlich ältere Teil unseres Gehirns, der zuständig ist für die Entstehung von Emotionen und Triebverhalten. Es sei überlebensnotwendig, da es uns in die Lage versetze, Reize schnell zu verarbeiten und zu handeln, beispielsweise beim Angriff einer Schlange, erklärt Nikolas Auer. Der „präfrontale Cortex“, der neuere Teil unseres Gehirns“, der alle spontanen Impulse bewertet, entwickelt sich jedoch erst im Lauf der ersten Lebensjahre zu voller Reife.

    Erst im dritten Lebensjahr beginnen die neuronalen Bahnen des präfrontalen Cortex zu reifen. Das wiederum erkläre, weswegen Kleinkinder oft noch ungehemmt zuhauen und zubeißen – die Kontrollschleife arbeitet noch nicht, sie können die Folgen ihres Verhaltens nicht ein- oder abschätzen, erläutert der Psychologe. Laut der „Theory of Mind“ entwickeln Kinder erst im Alter von drei bis fünf Jahren die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen – sie können andere Perspektiven übernehmen.

    Wie erreiche ich das Kind?

    Entscheidend sei die Reaktion auf das Verhalten der Kinder: Wie kann ich das Kind erreichen? Wie kann ich ihm helfen, mit seiner Wut umzugehen? „Sicher nicht mit vielen Worten oder Verboten“, sagt Nikolas Auer. Körpersprache, Mimik, Gestik und der Tonfall kommen auch beim Wutanfall im Kinderhirn an.

    Der erste Schritt sei, respektvoll Kontakt aufzunehmen. Es sei nicht so wichtig, was man sagt, sondern wie. Es gelte, den richtigen Ton zu treffen, Gefühle widerzuspiegeln, in kurzen Sätzen zu sprechen und zu wiederholen (Fast-Food-Regel), die Gefühle auch zu benennen: „Du bist wütend.“ Der zweite Schritt sei die elterliche/erzieherische Botschaft, sobald sich der Sturm der Gefühle etwas gelegt hat und die kognitive Gehirnhälfte wieder ansprechbar ist: „Du möchtest gerne …, aber ich will nicht, dass du andere haust!“

    Wenn die Wut wieder aufflackert, sollte man den ersten Schritt wiederholen und wenn das Kind ruhiger wird, Kompromisse anbieten. Der dritte Schritt sei dann nach einem Win-Win-Kompromiss zu suchen, die Lösung des Problems oder Wahlmöglichkeiten anzubieten – eventuell die Erfüllung des Wunsches in der Phantasie.

    Außerordentlich wichtig sei, dass das Kind lerne, mit seiner Wut umzugehen, sagt Nikolas Auer. „Kinder brauchen Hilfestellung, ihre Konflikte zu begreifen, auszudrücken und handhabbar zu machen.“ Das bedeute auch, sinnvoll Grenzen zu setzen und Gruppenregeln zu benennen. In einer Akut-Situation wie beim Beißen gelte es in erster Linie, das Verhalten zu unterbinden, mit „Stopp-Sätzen“ oder eindeutigen Gesten und eventuell räumliche Distanz zu schaffen. Und natürlich müsse man sich dem leidtragenden Kind zuwenden, aber auch dem Leid verursachenden, und die Gefühle beider Kinder zu benennen: „Du bist wütend, weil…, du bist traurig weil…“

    „Kinder können den Umgang mit Wut nur dann lernen, wenn sie Erfahrungen machen. Wenn wir ihnen verbieten, wütend oder traurig zu sein, verschließen sie sich.“

    Nikolas Auer, Psychologe

    „Kinder können den Umgang mit Wut nur dann lernen, wenn sie Erfahrungen machen. Wenn wir ihnen verbieten, wütend oder traurig zu sein, verschließen sie sich“, mahnt Nikolas Auer. Den Erziehenden komme deswegen eine schwierige und bedeutende Aufgabe zu: Sie müssen die Verhaltensweisen erkennen, verstehen und Alternativen, zu dem von den Kindern Praktizierten, vermitteln. Das heißt auch, zu erklären, dass Gefühle wichtig sind, aber dass sie nicht andere verletzen dürfen: „Beißen tut weh!“ Als Alternativen zum Frustabbau könnten ein Boxsack oder ein Wutkissen angeschafft werden. Am Ende einer jeden Konfliktsituation gelte es, alle Kinder wieder ins Spiel zu integrieren.

    In Kitas sei es wichtig, dass auch die Eltern über solche Vorfälle informiert werden, rät Nikolas Auer. Einerseits gelte es zwar, zu beobachten und frühzeitig einzugreifen, andererseits jedoch dürfe es auch keine Überbeachtung geben, denn das mache ein solches Verhalten interessant für andere Kinder. Gute Rahmenbedingungen schaffen Prävention: die Gewährleistung von Ruhe und Bewegung, das Angebot von unterschiedlichen Spiel- und Bastelmaterialien für Kinder unterschiedlichen Alters und natürlich die Möglichkeit, dass die Kinder sich unbeschwert im Freien austoben können. Außerdem sei Teamarbeit gefragt und die Kooperation mit den Eltern, so der Psychologe. Er zitiert eine Kita-Leiterin: „Wenn das Kind laufen lernt, dann freuen sich alle und klatschen. Und wenn es den Umgang mit Wut oder ähnlichen Emotionen übt, dann sind die Erwachsenen betroffen und das Kind ist böse. Dabei ist auch das ein wichtiger Lernprozess!“

    Vorträge und Hilfe Die Caritas-Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern bietet zu dem Thema „Umgang mit Aggression und Frustration bei Kindern“ Vorträge und Hilfe an. Weitere Informationen gibt es bei Nikolas Auer, Psychologe (M. Sc.), Schlossberg 2, 96215 Lichtenfels, Tel. (09571) 939190, E-Mail: erziehungsberatung@caritas-lif.de Internet: www.erziehungsberatung-lichtenfels.de.

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