So denkt man manchmal, wenn man wieder mal ehrlich beim Chef seine Meinung gesagt hat, während die anderen schwiegen, oder ganz einfach dann, wenn sich mein Gegenüber wütend oder betroffen von mir abwendet, weil ich doch nur ehrlich auf eine Frage geantwortet habe, zu der der andere meine Meinung hören wollte. Mancher mag auch schon darüber diskutiert haben, was Unehrlichkeit ist und ob es die Wahrheit überhaupt gibt, oder ob die Wahrheit nicht immer sehr persönlich ist, gerade weil sie eine persönliche Sichtweise wiedergibt.
Wer die diesjährige Fastenaktion „Mal Ehrlich! – Sieben Wochen ohne Lügen“ mitmacht, darf gespannt sein, wie sein Umfeld darauf reagiert. Ich hoffe nicht, dass es ihm wie jenem Journalisten ergeht, von dem berichtet wird, dass er als Experiment 40 Tage lang schonungslos ehrlich war und dabei seinen besten Kollegen beleidigte, seine Frau verprellte und seinen besten Freund verriet.
Ich glaube es ist sinnvoll und fürs Leben wertvoll, der eigenen Ehrlichkeit auf die Spur zu kommen und der Frage, ob Ehrlichkeit und Wahrheit füreinander unerlässlich sind, zumal 2+2 eben nur deshalb vier ist, weil man sich darauf geeinigt hat, und nicht, weil es die Wahrheit ist. Fakten bleiben nur solange Fakten, bis sie von einem anderen stichhaltig widerlegt werden. Vielen macht das Angst. Zu wichtig ist es uns schließlich, klare Positionen und Strukturen zu schaffen, Schwarz und Weiß. Grauzonen sind nicht beliebt, mancher meint, sie verschleiern die Wahrheit. Doch wenn ich mein Leben betrachte, wie oft wurde in den vergangenen 55 Jahren in Gesellschaft, Politik und Theologie etwas für absolut richtig erklärt, was sich ein oder zwei Jahrzehnte später als falsch herausgestellt hat. Selbst Bilder können problemlos gefälscht werden, und der Informationsgehalt mancher Nachricht aus dem Internet ist höchst zweifelhaft.
„Jetzt erkenne ich stückweise, dann werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“, so heißt es beim Apostel Paulus im ersten Korintherbrief. Ich liebe dieses Wort, und es war mir, die ja durchaus auch immer wieder nach bestem Wissen und Gewissen Texte und Positionen beurteilt, oft schon ein guter Wegweiser. Wenn ich davon ausgehe, dass meine Sichtweise nur Stückwerk ist und ebenso die der anderen, und dass allein die Wahrheit bei Gott liegt, dann muss ich mich weder der allgemeinen Schwarz-Weiß Malerei unterstellen, noch mich selbst über andere gnadenlos erheben. Ich weiß dann, dass alles, was ich sage oder nicht sage, oder was andere sagen oder nicht sagen, meine – oder deren – begrenzte Sichtweise ist und nicht allein selig machend, sondern in Frage gestellt werden darf. Um dabei nicht einer Massenmeinung hinterher zu laufen und um meine eigene Meinung vertreten zu können, offen und ehrlich, denn auch das ist gottgefällig, wie Jesus selbst und die Apostel zeigten, halte ich es mit dem Maßstab der Heiligen Schrift. Den Nächsten zu lieben wie mich selbst und damit gegenüber anderen so zu handeln, wie ich will, dass andere mir gegenüber handeln. Eigentlich ganz einfach. So möge uns die Fastenzeit vom Lügen abhalten, aber die Wahrheit, die wir glauben zu kennen, uns nie den barmherzigen und liebevollen Blick verstellen. Sagen wir ehrlich, was wir denken, aber vergessen wir, bevor wir reden, nie, dass wir nur Stückwerk sehen. Manche Ehrlichkeit erübrigt sich dann, ohne dass sie eine Lüge wäre.
Anne Salzbrenner, evangelische Pfarrerin Lichtenfels