Philip kommt ein paar Minuten später als verabredet – er hat einem Lehrer noch beim Aufräumen geholfen. Sein linker Arm ist verbunden, Elle und Speiche sind beide zweimal gebrochen und werden nach einer Operation mit Nägeln und Drähten zusammengehalten. Er strahlt über das ganze Gesicht. Über ein halbes Jahr war der 15-jährige Schüler des Meranier-Gymnasiums Lichtenfels mit „Klassenzimmer unter Segeln“ auf einem Schiff unterwegs.
Philip: Komisch, die ganze Zeit auf See ist mir nichts passiert – und jetzt, wo ich zurück bin, erwischt mich das im Sportunterricht.
Obermain-Tagblatt: Wie war denn das Zurückkommen? Wie ging es dir in der letzen Nacht auf See?
Philip: Wir waren alle aufgeregt, die Nacht von Karfreitag auf Ostersamstag war kurz. Wir lagen ungefähr eine Seemeile von unserem Heimathafen in Kiel vor Anker und hatten am Abend noch ein Captains Dinner. Am Morgen sind wir die Wanten hoch, haben möglichst früh auf die Pier schauen wollen. Und dann sind wir von Bord gerannt – unseren Eltern entgegen. Klar hatten wir Kontakt über WhatsApp und haben auch mal telefoniert, aber das Gefühl, sich wieder anfassen zu können, sich zu umarmen, das war unheimlich stark.
„An Bord haben wir mit unseren Lehrern gelebt. Ich sehe auch was sie leisten, wie sie sich vorbereiten, was für eine Mühe es ist, Zeugnisse zu schreiben.“

Du hast deine Familie über ein halbes Jahr nicht gesehen. Wie haben sich denn deine Eltern verändert?
Philip: Am meisten hat sich eigentlich mein jüngerer Bruder verändert. Der hat sich unheimlich entwickelt, ist gewachsen, hat sich optisch verändert. Meine Eltern sind lockerer geworden. In jeder Beziehung. Ich merke, dass ich mehr Freiheiten bekomme, dass sie mir mehr zutrauen. Zum Beispiel darf ich jetzt öfter für die ganze Familie allein kochen. Das habe ich ja auch intensiv auf dem Schiff gelernt. Jedoch sind es hier nur vier Personen anstatt 50, die man versorgen muss.
Wie ist das, nach einer so langen Zeit, seine Freunde wieder zu sehen?
Philip: Bis auf wenige Ausnahmen hatten wir ja ständig Kontakt. Und meine Freunde haben mich bei der Rückkehr mit einer Party überrascht. Es ist ein schönes Gefühl zu wissen, dass sie immer hinter mir stehen. Und ich habe obendrein viele neue Freunde, die ich zurücklassen musste. Das ist unsere Mannschaft mit 34 Leuten, mit denen ich natürlich zusammengewachsen bin. Unterwegs hatte ich nie Heimweh, auch wenn ich jetzt froh bin, wieder zuhause zu sein. Aber hier habe ich Schiffsweh. Die Gruppe fehlt mir.
Wie war das auf dem Schiff mit so vielen Menschen auf so engem Raum?
Philip: Es ist schon klasse, jetzt die Tür hinter mir zu zu machen und allein im Zimmer sein zu können. An Bord waren wir immer zu viert in einer Stube. Da merkt man schon, wie der Raum beansprucht wird und auch viel schneller dreckig wird. Natürlich gibt es da auch Konflikte untereinander.

Zum Beispiel?
Philip: Naja, wenn sich einer mit immer neuen Ausreden vom Putzen drückt oder die persönlichen Sachen eines anderen nimmt, ohne zu fragen. Irgendwann läuft dann innerlich das Fass über, man brüllt sich an. Dann hilft nur, auseinander zu gehen. Wir haben versucht, die Konflikte immer untereinander ohne die Lehrer zu lösen. Wichtig ist das direkte Klären und nicht hinterrücks zu stänkern. Irgendwann sagst du, jetzt sind wir quitt. Es nützt ja nichts, früher oder später sind wir wieder aufeinander angewiesen.
Wie erlebst du das bei deiner Rückkehr am Meranier-Gymnasium?
Philip: Erst mal sehe ich, was für einen Luxus wir hier haben. Wir waren in Schulen in Panama und Kuba. Wahnsinn, unter welchen Bedingungen die lernen: Kleine Zimmer, keine tollen Tische und Stühle, der Unterricht ist schon von daher viel schwieriger.
Und deine Lehrer?
Philip: Die sehe ich heute mit anderen Augen. Früher dachte ich auch, die wollen dir halt was Fieses reindrücken. Aber das sind Menschen wie wir. An Bord haben wir mit unseren Lehrern gelebt. Haben sie auf dem Weg zur Dusche gesehen, haben mit ihnen Karten gespielt. Ich sehe auch was sie leisten, wie sie sich vorbereiten, was für eine Mühe es ist, Zeugnisse zu schreiben. Die sind normal wie unsere Eltern auch. Sie müssen halt ihren Stoff durchbringen, da mache ich ihnen auch bei einem härteren Tag keine Vorwürfe. Ich bin lockerer geworden im Umgang mit ihnen. Wenn sich andere grundlos über Lehrer aufregen, dann sage ich was...

Du warst ja nicht auf dem Schiff, sondern ihr habt Menschen in der ganzen Welt kennengelernt...
Philip: Unglaublich, ja. Wir durften an deren Leben teilhaben und haben uns unterhalten so weit unser Spanisch das zugelassen hat. Auch da sehe ich, in was für einem Luxus wir leben. Wenn in armen Ländern eine Tafel Schokolade zum Beispiel zehn Dollar kostet, dann sieht man, was für ein riesiger Luxus das für die Menschen dort ist. Ich sehe hier bei uns wie wenig Müll, wie wenig Arbeitslose und wie wenig soziale Ungleichheit wir haben. Das ist ist in anderen Ländern viel krasser.
Wie erzählst du das hier?
Philip: Das hat sich gewandelt. Wir haben am Anfang gewitzelt, wer die meisten Wie-war's? bekommen hat. Heute merke ich im Alltag, dass mich bestimmte Situationen immer wieder an Geschichten auf dem Schiff erinnern. Zum Beispiel eine Musik, die auch in der Kombüse lief – solche Sachen. Dann erzähle ich davon. Andere Dinge fragen die Leute einfach nicht.

Was denn?
Philip: Zum Beispiel wie das mit den Sozialen Medien und dem Medienkonsum war.
„Wenn in armen Ländern eine Tafel Schokolade zum Beispiel zehn Dollar kostet, dann sieht man, was für ein riesiger Luxus das für die Menschen dort ist.“
Philip Schnapp
Und, wie war es?
Philip: Wir hatten, wenn wir auf See waren, soviel zu tun, dass wir gar nicht dazu kamen – und Empfang war auch keiner. Den hatten wir an Land. Da haben wir unsere Smartphones dann genutzt, um Nachrichten abzurufen und zu schreiben. Aber jetzt, wo ich wieder daheim bin, ist es wieder wie vorher. In den letzten Tagen auf See war die Sehnsucht schon spürbar. Einige haben sich dann zum Spielen verabredet. Ich wundere mich manchmal schon, wieviel Zeit die anderen so haben – auch wenn ich selbst wieder viel Zeit mit Medien verbringe.
Wie merkst du die Zeit auf dem Schiff in deinem Alltag?
Philip: Abends bin ich total froh, dass es beim Einschlafen nicht mehr schwankt. Und allmählich gewöhne ich mich auch wieder daran, dass ich Treppen nicht rückwärts runtergehen muss. Das sind ganz unspektakuläre Dinge. Dass ich ein Glas auf den Tisch stellen kann und es stehen bleibt, zum Beispiel. Auf dem Schiff bin ich in dieser Hinsicht schon etwas paranoid geworden. Ich weiß, wie schön es ist, festen Boden unter den Füßen zu haben. Ich bin ein Landmensch, der gelernt hat, wie wohlbehütet wir hier sind. Das ist nicht selbstverständlich, das weiß ich echt zu schätzen.