Was da zu den Grenzern wummert, klingt nicht so ganz nach DDR-Radio. Die „Rolling Stones“ singen „I can get no satisfaction“. Es knarrzt sehr analog aus dem tragbaren Kassettenrekorder, bis die Batterien leer sind. Gefeiert wird weiter, die ganze Nacht bis in die Morgenstunden. Junge Frauen mit unverschämt kurzen Röcken lachen. Die Kerls dazu tragen gewaltige Schlaghosen und haben deutlich längere Haare als die der Uniformierten unter ihren NVA-Schiffchen im nahen Wachturm. „Was sich die wohl gedacht haben, als so nah gefeiert wurde“, fragt sich Angelika Bauersachs heute, als sie mitten in ihrem Garten steht. Der war einmal ein Minenfeld.

Im Hintergrund leuchtet ihr schmuckes Bauernhaus im Grünen. Mitte der 1970-er Jahre stand es leer. Die Großeltern waren aus der Reuterswustung 1 (Gemeinde Mitwitz) ausgezogen, und Angelika Bauersachs älterer Bruder ließ es da schon öfters mal mit der Clique krachen. Dufte Fete, nannte man so was damals. Sogar eine kleine Bar hatten sich die jungen Leute zusammengezimmert. Der wilde Westen begann direkt an der „Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik“. Aus Ost-Grenzersicht zumindest.
„Als Kind hieß es immer. Geh ja nicht hinter das Haus. Da steckt noch immer in meinem Kopf.“
Angelika Bauersachs, Grenzanrainerin
An die wilden Zeiten erinnert heute wenig. Das Gebäude sieht aus wie ein Paradebeispiel für eine gelungene Renovierung. Verschwunden sind auch die Grenzanlagen. 30 Zentimeter vom Hauseck entfernt begann einst die innerdeutsche Grenze.
Aber nicht selten spukt sie immer noch durch den Kopf von Angelika Bauersachs. Das ehemalige Minenfeld hat sie mit ihrem Mann Rudolf dazu gekauft. Natürlich, nachdem das Feld geräumt war. „Der Kauf war schon ein ziemlich bürokratischer Aufwand“, lacht heute der 68-Jährige. Hinter ihm springt Schäferhundin Kira quer über die Wiese. Schäferhunde hatten die Grenztruppen der DDR auch. Aber sicherlich mit weniger sanftem Gemüt als Kira. Die Wachhunde waren abgerichtet. Kira will vor allem eines: spielen. Auch mit dem fremden Besucher.
Spaziergang durch den ehemaligen Todesstreifen

„Manchmal da fühl' ich mich immer noch ein wenig mulmig, wenn ich über die Wiese gehe. Wenn doch noch eine Mine in der Erde steckt“, meint die 59-Jährige nachdenklich. „Als Kind hieß es immer. Geh ja nicht hinter das Haus. Da steckt noch immer in meinem Kopf“, fügt sie hinzu. Hinter dem Haus, da war die DDR. Zaun und Stacheldraht sind verschwunden. Mitten im Garten leuchtet ein Betonstele in Schwarz-Rot-Gelb. Inklusive aufgeschraubten DDR-Hoheitszeichen aus Gussaluminium. Beide sind Replikate. Das Original liegt gleich daneben im Gras. Teile des Beton um die Stahlarmierung sind herausgebrochen. Die Farbe ist schon fast gänzlich verwittert. Das alte Wappen längst nach der Grenzöffnung von einem Souvenirjäger herausgebrochen.
„Die ersten Jahre nach der Grenzöffnung, da wollte ich nur eines. Nichts soll mehr an die unglückselige Grenze erinnern. Dann habe ich gemerkt, dass es doch wichtig ist. Weil es ein Teil unserer Geschichte und der von unserem Haus ist.“ So entstand also der Neuguss der Stele mit prächtigem Anstrich. Auferstanden aus Ruinen quasi.

Dass das Ehepaar geschichtsbewusst ist, zeigt auch ein Besuch in ihrem Wohnzimmer. Schöne alte Bauernmöbel stehen da. Die Renovierung geschah ganz offensichtlich mit viel Fingerspitzengefühl für das alte Haus. Ein Blick aus dem Wohnzimmer gibt die Aussicht frei von Oberfranken in das heutige Thüringen. Geradeaus in den Wald, Richtung Osten, auf das ehemalige Minenfeld. Die Reuterswustung 1, Gemeinde Mitwitz, war bis zur Grenzöffnung quasi U-förmig von der DDR umgeben.
Die Reuterwustung 1 war auch der erste Quadratmeter Bundesrepublik für so manchen, der die Flucht aus dem Osten in den Westen wagte. Noch bevor 1961 der eiserne Vorhang niederging. Zäune, Selbstschussanlagen und Minenfelder, die eine Flucht endgültig zum Russisch-Roulette mit oft tödlichem Ausgang werden ließen. „Die Fluchtroute führte direkt zwischen Haus und Scheune. Da hasteten dann die Menschen durch in die Freiheit“, sagt Angelika Bauersachs.
Manche kommen heute wieder, um sich zu erinnern. Alte Menschen, die damals jung waren. Den Versprechungen eines Sozialismus auf deutschem Boden keinen Glauben mehr schenken wollten. „Mit einer Frau bin ich einmal in das Gespräch gekommen. Das war schon wirklich ein ganz besonderes Erlebnis für mich“, sagt die Angelika Bauersachs. Es gab dann Kaffee und Kuchen im behaglichen Wohnzimmer der Familie Bauersachs.

Das einzige, das in der deutschen-deutschen Trennungsgeschichte bis zur letzten Minute stets zusammen hielt, das war das Stromkabel. „Während der ganzen Zeit der zwei deutschen Staaten gab es den Strom aus der DDR. Vom VEB Energiekombinat aus Erfurt. Der war sehr, sehr günstig“, lacht Rudolf Bauersachs. Er war übrigens selber ein Grenzer. Von 1971 bis 1973 diente der 68-Jährige beim Bundesgrenzschutz. Da waren die beiden gerade ein Paar. Für Angelika Bauersachs war ihre Teenagerliebe bereits die Liebe für das Leben.
Ein offenes Herz konnten die Grenzer aus dem Osten eher weniger von der Angelika Bauersachs erwarten. Trotzdem kam es zu einer recht ungewöhnlichen Einladung nach Sonneberg in Thüringen. „Und das kam so“, erklärte die 59-Jährige. In den 1980-er Jahren gab es am Haus Entbuschungsarbeiten und die gefällten Bäume landeten samt und sonders auf DDR-Staatsgrund.
„Das wollten wir brav wegräumen.“ Der Antrag wurde bei der bayerischen Grenzpolizei gestellt, die übermittelten an die Ost-Grenzer. „Dann gab es die Freigabe. Alles ganz exakt: von wo bis wo, wann, wie lange und wie viele Helfer“, erinnert sich Angelika Bauersachs.
Im Dickicht Stellung bezogen

Weil sie schon deutlich vor erlaubtem Arbeitsbeginn am Haus standen, sahen die 59-Jährige und ihre zwei Helfer, wie zwei Ost-Grenzer im Dickicht Stellung bezogen. „Hey, kommt doch raus“, rief der Aufräumtrupp beherzt. „Und tatsächlich. Sie kamen wirklich. Zwei Grenzer in voller Montur samt Kalaschnikow. Wir haben ganz normal miteinander geredet. Sie waren höflich“, erinnert sich die Angelika Bauersachs.
Die kleine Tauphase im Mikrokosmos des Kalten Kriegs, direkt an der Reuterswustung 1, unweit wo heute die nachgegossene Betonstele steht, sie endete im breitesten thüringischen Dialekt: „Gommt amol noch Sumbarch“, lautet die Einladung des breit-grinsenden Grenzers. Es dauerte noch bis Anfang 1990, bis das dann passierte. Wer der Grenzer war, das weiß das Ehepaar Bauersachs bis heute nicht. „Aber eine Einladung zum Kaffee wäre für ihn drin“, schmunzelt Rudolf Bauersachs. Weil er gezeigt hatte, das auch in einer Ost-Grenzeruniform letztendlich einer steckt: ein Mensch.