Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi (2. Kor. 5, 10a). Dieser und ähnliche Verse der Bibel haben viele Jahrhunderte den Menschen Angst gemacht. Doch es waren weniger die Verse, die die Angst verbreiteten, als vielmehr die Menschen, die diese Verse nutzten, um anderen Menschen Angst zu machen. Bilder sind entstanden, die Menschen mit Fratzen des Todes und der Angst zeigen. Die Bilder von Fegefeuer und Hölle sollten die Menschen einschüchtern.
Doch in dem Wochenspruch der neuen Woche wird nicht gesagt, dass wir irgendwelche Qualen erleiden werden. Hier ist lediglich die Rede davon, dass der Mensch einmal Rechenschaft vor Gott ablegen muss. Das bedeutet, dass wir auf unser Leben schauen sollen und uns erinnern sollen, wie wir gelebt und gehandelt haben. Da wird deutlich, dass es nicht einerlei ist, wie wir mit unserem Leben und dem Leben anderer umgehen.
Immer am Kirchenjahresende erinnern wir Christen uns daran, dass unser Leben endlich ist, aber auch, dass wir eine großartige Perspektive haben. Uns bestimmt die Hoffnung, dass der Richterstuhl Christi kein ungerechtes Urteil zulässt, weil Christus für uns vor Gott eintritt. Er hat sein Leben für uns gegeben, damit wir vor Gott bestehen können. Denn unsere Taten reichen dafür nicht aus. Gott schenkt uns Leben! Nicht, weil wir so gut sind, sondern weil ER gut ist. Gott sehnt sich danach, mit uns Gemeinschaft haben zu können. Nicht erst im Jenseits, sondern in diesem Leben.
Immer am Kirchenjahresende erinnern wir uns auch an diejenigen, die bereits verstorben sind. Am Volkstrauertag, der vor uns liegt, erinnern wir uns an die Menschen, die durch Krieg, Terror und Gewalt sterben mussten. „Er-innern“ – dieses Wort sagt uns schon, worum es an diesem Tag geht. Es ist ein aktives Wort. Etwas erschließen, was in meinem Innern von der Vergangenheit schlummert. Erinnern schützt vor dem Vergessen – damit wir lernen – „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen ...“.
Am Volkstrauertag wird sichtbar, dass der Mensch verletzlich ist. Krieg, Terror und Gewalt haben eine Wurzel – die Feindschaft zwischen Menschen und letztlich den Egoismus, der uns Menschen oft prägt. Das bedeutet, dass Krieg, Terror und Gewalt nicht erst mit den großen Beispielen beginnen, sondern bei mir im Innern anfängt. Wo wir anderen Menschen ihre Würde absprechen, wo wir andere mobben, im Internet niedermachen („bashen“), wo wir Hass verbreiten, statt aufeinander zuzugehen und einander anzunehmen, wo wir nur unser eigenes Glück sehen und durchsetzen, auch auf Kosten des Glücks anderer, da beginnen Krieg, Terror und Gewalt.
Jesus hat etwas anderes in diese Welt gebracht! Sein Wille war es immer, dass wir unseren Nächsten, ja, sogar unsere Feinde lieben. Diese bedingungslose Liebe anderen gegenüber wird uns Menschen von uns aus wohl nie gelingen. Dazu brauchen wir die Beziehung zu Gott. Er kann aus unserem unzureichenden Wollen das Vollbringen geben.
Der Volkstrauertag mahnt uns genauso wie der Wochenspruch, dass wir unseren Nächsten nicht vergessen. Es geht nicht um die Vergangenheit, sondern um unsere Zukunft. Gott mag es geben, dass wir einander annehmen, wie Christus uns angenommen hat.
Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi. Das ist keine Drohung, sondern eine Herausforderung und am Ende verbunden mit der Hoffnung, dass wir in Gottes Nähe vollkommenen Frieden bekommen können.
Pfarrer Kornelius Holmer,
Zapfendorf