An den Wänden hängen Bilder, in denen sich die Historie des 1856 gegründeten Vereins widerspiegelt. Auf dem alten Notenpult steht sein Name: Liederkranz. Der Probenraum in der Burgkunstadter Stadthalle atmet an allen Ecken und Enden ein Stück heimischer Musikgeschichte. Auf einem Tisch stapeln sich die Notenblätter, die in den vergangenen Wochen unberührt geblieben waren. Vorsitzender Paul Münch erzählt mit Hingabe von den längst verstorbenen Idealisten, die trotz Asthma-Erkrankung zur Singstunde kamen.
„Die Altvorderen hätten sich wohl nie träumen lassen, dass einmal ein Erreger namens Corona den Chorgesang in einen Dornröschenschlaf versetzen würde“, sagt er bei einem Gang durch das Zimmer.

Kein „Ännchen von Tharau“ und auch „Kein Schöner Land“ durchflutet den Raum. Eine Dame und vier Herren, denen der Chorgesang eine Herzensangelegenheit ist, lassen im Gespräch mit dem Schreiber dieser Zeilen ihre Gedanken um die derzeitige Situation kreisen. „Mit Beginn der Allgemeinverfügung am 16. März musste der Chorbetrieb in Bayern eingestellt werden“, erinnert sich Pia Hempfling. Die 31-Jährige aus dem Landkreis Kulmbach ist Gruppenchorleiterin der Sängergruppe Kordigast und Chorleiterin des Kinder- und Jugendchores der Redwitzer Ohrwürmer.
„Der 1. Mai, die Kirchweih am 1. Juliwochenende, der Heldengedenktag und das Weihnachtskonzert am 2. Advent“, zählt Franz Ultsch Vorsitzender des Gesangvereins Freunschaftsbund Mainroth die wegen Corona abgesagten Veranstaltungen auf. Auch bei den anderen Vereinen mussten alle Auftritte gestrichen werden.
Viele Senioren sind in den Chören aktiv
Roland Dietz, Vorsitzender der Sängergruppe Kordigast, der elf Chöre aus Alten- und Burgkunstadt, Weismain und Redwitz mit insgesamt 250 Sänger und Sängerinnen angehören, beziffert die Vorlaufzeit für Konzerte auf ein halbes Jahr. Das erklärt die Tatsache, weshalb bereits Konzerte im Herbst und Winter abgesagt werden mussten. Für Hempfling liegt der Grund für die lange Vorlaufzeit in der Altersstruktur vieler Chöre, die mit Senioren reich gesegnet seien. „Alte Menschen brauchen länger, sich Dinge anzueignen. Das macht sich beim Einstudieren neuer Lieder bemerkbar.“

What?s App und E-Mail sind für Sangesschwestern und -brüder im fortgeschrittenen Alter oftmals böhmische Dörfer. Und so feiern in Zeiten der Kontaktbeschränkungen aus der Mode gekommene Kommunikationsmittel fröhliche Urständ. Ultsch und Münch erzählen von Briefen und Glückwunschkarten, die sie ihren Mitgliedern schickten.
Die Redwitzer Ohrwürmer nutzten die moderne Technik. Schon mal etwas von einem virtuellen Chor im Multiscreen-Verfahren gehört? Auf der Internetseite der Redwitzer Chöre kann man sich an seinem jubilierenden „Hurra! Hurra! Hurra!“ erfreuen.
„Jedes der Kinder sang zu Hause zu meiner Stimme und die Eltern filmten mit.“
Pia Hempfling, Gruppenchorleiterin Kordigast
Hempfling hatte den Buben und Mädchen eine von ihr eingesungene Audioversion des Liedes aus dem Kindermusical „Randolfo und der eine Ton“ zugeschickt. „Jedes der Kinder sang zu Hause zu meiner Stimme und die Eltern filmten mit. Danach wurden die Videos technisch übereinandergelegt, wo sie im fertigen Film in verkleinerter Form zu sehen sind“, erläutert die Chorleiterin die Entstehung des Musikvideos.
Die chorlose Zeit ist für eingefleischte Sänger eine entbehrungsreiche Zeit. „Wenn ich im Radio oder Fernsehen jemanden singen höre, dann juckt es mir schon in den Fingern“, spricht Dietz den Anwesenden aus dem Herzen. Münch macht aus der Not eine Tugend und singt solo zu Hause bei der Hausarbeit. Heribert Humbert aus Maineck, stellvertretender Vorsitzender der Sängergruppe, vermisst die Geselligkeit. Entgangen sind den Vereinen auch die Konzerteinnahmen. Existenzbedrohend seien diese nicht, hört man aus der Runde, die sich mehr finanzielle und ideelle Unterstützung von den Dachverbänden Deutscher Chorverband, Fränkischer Sängerbund und Sängerkreis Coburg wünscht.
Was die Dame und die Herren eher fürchten, ist etwas ganz anderes: die Bequemlichkeit. „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“, sagt Hempfling. Wer ein halbes Jahr nichts getan habe, der gewöhne sich oftmals sehr schnell daran, auf der Couch sitzen zu bleiben. Ältere Leute bauten dabei körperlich ab und entsagten letztendlich ihrem Hobby, spinnt die Rednerin ihren Gedanken weiter.
Die Nachricht, dass seit dem 22. Juni im Freistaat wieder geprobt und gesungen werden darf, löst bei den anwesenden Vertretern aus der Sangeszunft keine Glücksgefühle aus. Es sind die Auflagen, die sie unter dem Gesichtspunkt des Infektionsschutzes zwar für richtig erachten, die ihnen zugleich aber auch die Sorgenfalten auf die Stirn treiben, was die Umsetzbarkeit anbetrifft. Für Ultsch ist der Probenraum des Freundschaftsbundes Mainroth, der sich in der Gaststätte Müller befindet, schlicht und ergreifend zu klein, um die geforderte Abstandsregelung von zwei Metern zwischen den einzelnen Sängern und Sängerinnen einzuhalten.

Vorschriften sind schwer umzusetzen
Die Vorschrift nach 20 Minuten eine zehnminütige Pause einzulegen, wird kritisch gesehen. „Das Einsingen, das den Stimmapparat aufweckt und aufwärmt, sollte in das eigentliche Singen übergehen“, erklärt Hempfling. Die Expertin befürchtet, dass dieser Effekt bei einem Laiensänger, der im Unterschied zum Profi nicht fünf sondern vielleicht 15 bis 20 Minuten benötigt, wieder verfliegen könnte. Zudem, so die Chorleiterin, sollte eine Singgemeinschaft wie ein großer Klangkörper klingen. Das gestalte sich schwierig je weiter die einzelnen Akteure auseinanderstünden.
Chorsingen gilt in Zeiten von Corona als besonders riskant. In Berlin erkrankten im März 60 von 80 Sängern der Domkantorei im Umfeld einer Probe. Dass das Aktive auch unter Einhaltung der Hygienevorschriften von einer Probe abhalten könnte, darin ist sich das Quintett einig, denn so Dietz: „Ein Restrisiko bleibt immer.“
Hoffnung, das 2021 wieder Normalität einkehrt
Die fünf hoffen, dass 2021 wieder Normalität einkehrt. Während Münch und Ultsch Proben für ihre Vereine derzeit ausschließen, spielt Hempfling mit dem Gedanken, auch unter Auflagen ihre „Ohrwürmer“ singen zu lassen. In einem sind sich alle einig: Ohne das Singen wäre die Menschheit um einiges ärmer. „Musik schenkt Freude und Geselligkeit. Es belebt das Miteinander und nicht das Gegeneinander“, sagt Hempfling.