Markus Häggberg schreibt für OTverbindet augenzwinkernd ein Corona-Tagebuch. Kann das Lesen selbst die Liebe stärken? Vielleicht ja. Aber das Experiment kann auch gehörig in die Hose gehen.
„Liebes Corona-Tagebuch, Literatur hat ja so viel zu geben. Gerade jetzt zu Corona-Zeiten heißt es, dass wieder mehr gelesen würde. Und so begegnen die Menschen wieder verstärkt den Klugen aller Zeiten, den Shakespeares und sonst noch wem. Sie lassen sich durch sie in andere Zeiten und andere Länder versetzen, und werden nostalgisch zu Erfahrungen, die sie selbst nie gemacht haben.
Hach, ja. Bei M. und der Uli hatte das mit dem Lesen noch eine andere Bewandtnis. M. hatte eine Freundin von auswärts, von weiter weg also. Fernverkehr, wenn man so will. Aber weil Liebe ja Nähe braucht, kamen er und die Uli darin überein, doch gemeinsam dasselbe Buch zu lesen, gemeinsam das darin beschriebene Abenteuer zu erleben, Gefühle zu teilen und sich darüber auszutauschen. Kurzum: Intimität erleben.
Sie wählt das Buch aus
M. überließ der Uli die Wahl des Buches, und sie schlug ihm ihr Lieblingsbuch vor: „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee. „Ich habe es schon acht- oder neunmal gelesen. Ich weiß alles darüber – kannst mich ruhig fragen“, erklärte die Uli ihm. Ihre Augen leuchteten. Man nahm sich vor, sich auf lesende Weise gegenseitig zu ergründen, zu bespiegeln und einander näherzukommen. Jeden Abend schrieb man sich, was man gelesen und erfasst hatte, was in einem nachhallte und wirkte.
Und bis dieser kleine Junge auftauchte, war auch alles in Ordnung. Doch plötzlich war er da, mit seinem semmelblonden Haar und der naseweisen Art. M. kannte das Buch nicht, aber er hatte den Eindruck, diesen Knirps zu kennen. Die Art, wie er Themen wechselte, wie er Formulierungen traf, wie er sich in Szene setzte – alles schien zu stimmen und auf den später weltberühmten Dichter Truman Capote (Frühstück bei Tiffany) zuzutreffen.
Es war freilich abwegig, dass er es war, aber irgendwie hatte M. so eine Intuition und der spürte er nach. Und das Ende vom Lied war, dass er herausfand, dass es sich bei dem kapriziösen Rotzlöffel tatsächlich um Capote in Miniatur handelte. Was für ein schönes Detail, das musste er unbedingt der Uli mitteilen.
Freudig fiebernd zum Telefon gegriffen
Freudig fiebernd griff er noch gegen Mittag zum Telefon. Ach, wie würde sie sich doch über diese Entdeckung freuen, die Uli. Denkste. Die Uli machte ein Fass auf. Nein, gab sie zu, sie wusste nicht dass das Capote war. Stattdessen warf sie M. vor, dass es darum in der Geschichte doch gar nicht gehe, und war ziemlich sauer. Ausgesprochen sauer.
M. konnte sich keinen Reim auf die Angelegenheit machen. Jedenfalls ist darüber die Sache mit der Nähe zerbrochen. Intimität gab es dann auch keine mehr. Liebes Tagebuch, es heißt ja immer, dass Lesen bildet, aber war das jetzt das falsche Buch, das falsche Detail oder die falsche Frau?“