Der Philosoph Günter Seubold unternimmt seit Jahrzehnten schwierige Touren in Fels und Eis. Im Gespräch erklärt er, wie Bergsteigen eine Schule des Lebens sein kann.
Herr Seubold, Sie sind ein leidenschaftlicher, überzeugter und reflektierter Bergsteiger, wie man in Ihrem neuen Buch „Bergsteigen. Eine Philosophie des Lebens“ lesen kann. Wann entstand Ihre Sehnsucht nach den Bergen?
Seubold: Schon sehr früh. Zu den alpinen Fahrten habe ich zwar erst im Studium an der Uni Würzburg gefunden. Da wurden Kurse angeboten, Einführung ins Bergsteigen, Kurse für das Skifahren. Auf diese Weise bin ich als 20-Jähriger mit den Alpen in Verbindung gekommen. Allerdings verbrachte ich meine Kindheit am Fuße und gleichsam im Dreieck von Frankenwald, Fichtelgebirge und Nördlicher Frankenalb. Da ist es auch schon bergig. Und damals waren die Winter noch Winter, da konnte man manchmal bis Ende März skifahren.
Das heißt, dass die Berge und die Bergleidenschaft für Sie schon immer mit Schnee und Eis verbunden waren?
Seubold: Genau. Meine Passion waren von vornherein die Hochtouren.
Wann haben Sie als Philosoph Ihr erstes Seminar über das Bergsteigen gegeben?
Seubold: Ein Seminar über das Bergsteigen war nie direkt dabei, aber in Seminaren über die Lebenskunst und in Ästhetik-Vorlesungen kamen die Berge und das Bergsteigen schon vor.
Waren das die Momente, in denen Sie entdeckt haben, dass das Bergsteigen für Sie mehr als nur ein großartiges Naturerlebnis ist?
Seubold: Ich habe gemerkt, dass Bergsteigen in vielen Aspekten eine Form von konzentriertem Leben ist. Wenn man das Bergsteigen richtig versteht und es ganzheitlich nimmt, ist es eine großartige Schule des Lebens. Darin lauert freilich eine Gefahr: Man darf das Bergsteigen nicht instrumentalisieren. Wer das Bergsteigen zu einer Schule des Lebens macht, verzweckt es. Es muss ein Selbstzweck bleiben, dann lernt man, ob man will oder nicht, für das Leben.
Was konnten Sie vom Bergsteigen für Ihr Leben lernen?
Seubold: Was man heute Resilienz nennt: dass man sich von einer Negativität nicht sofort umwerfen lässt. Damit hat mich das Bergsteigen auf einer höheren Ebene ankommen lassen. Ich konnte das Leben besser verstehen und besser leben.
Wie verändert das Bergsteigen das Denken und das Erleben?
Seubold: Gewaltig. Man muss das Bergsteigen sorgfältig praktizieren. Man darf nicht hudeln. Wer hudelt, begeht Fehler. Im Extremfall können Fehler einem am Berg das Leben kosten. Bergsteigen ist konzentriertes Tun. Zumindest, wenn es darauf ankommt. Denken Sie an Berge wie Matterhorn oder Piz Bernina mit dem Biancograt. Wenn Sie nicht achtsam sind, kann ein falscher Schritt das Leben kosten.
Wie prägen diese Erfahrungen das Denken?
Seubold: Man muss die Konzentration über eine lange Strecke halten, manchmal über Stunden. Beim Matterhorn dauert der Aufstieg mindestens vier Stunden und beim Abstieg muss man genauso konzentriert sein. Das prägt das Denken. Ich kann das allen nur empfehlen, die sich intensiv mit einer Sache beschäftigen wollen, egal auf welchem Gebiet. Das muss jetzt nicht Philosophie oder Wissenschaft sein. Das Bergsteigen ist eine Schule der Konzentrationsfähigkeit.
Sie beschreiben in Ihrem Buch auch, dass Bergsteigen das Denken selbst beeinflusst.
Seubold: Da kann ich natürlich nur von mir reden. In den Bergen kommt man auf Gedanken, zu denen man in der Ebene oder im Alltag nicht kommen würde. Konkret bei mir habe ich das während meiner Habilitation bemerkt. Ich kam nicht mehr recht vorwärts, war überarbeitet. Da bin ins Oberengadin gefahren und war in den Bergen wie neugeboren, als ich dort allein unterwegs war. Ich habe meine Ideen und Probleme lösen können, ohne dass ich diese lösen wollte. Es geschah mir. Bei Schwarzwald-Philosophen und Davos-Liebhaber Heidegger heißt es: Wir kommen nicht zu Gedanken, sie kommen zu uns.
In unserer alltäglichen Welt leben wir arbeitsteilig und sind in ein komplexes Geflecht aus Beziehungen eingebunden. Was passiert am Berg?
Seubold: Der Bergsteiger ist auf sich selbst gestellt. Das ist das Entscheidende. Individualisierung und Selbstbestimmung sind ja Schlagworte unserer Zeit. Theoretisch kann man dazu noch so viel lesen, beim Bergsteigen wird es in der Praxis eingeübt. Ich bin auf mich selbst gestellt und muss mich selbst richtig einschätzen können. Wenn ich meine Kräfte und mein Können nicht richtig einschätze, könnte das katastrophale Folgen haben.
Woher hat bei Ihnen diese Sehnsucht nach schwereren und auch gefährlicheren Bergen gerührt?
Seubold: Das ist schon so etwas wie eine Herausforderung. Wobei man mich nicht missverstehen darf. Es geht nicht um ein Höher, Weiter und Besser. Mir ist jemand, der auf einem einfachen Weg in den Bergen zu sich selbst und zur Welt findet, lieber als ein narzisstischer Rekordjäger. Wesentlich für mich war das Moment der Gefahr. Ohne das Moment der Gefahr wäre für mich Bergsteigen, ja ich würde fast sagen, langweilig. Ich würde dann höchstwahrscheinlich nicht in die Berge gehen. Warum ist die Gefahr für mich wichtig? Weil sie, wenn sie überwunden ist, ein sehr schönes Gefühl erzeugt: Dankbarkeit. Diese Dankbarkeit erzeugt eine neue Liebe zum Leben. Das war für mich der Grund, von den einfacheren Touren zu den schwierigeren Touren fortzufahren.
Wie würde sich unsere Gesellschaft verändern, wenn mehr Menschen diese Erfahrung am Berg machen würden?
Seubold: Elementar. Eine Gesellschaft ist ja dann gut, wenn nicht jeder die Einstellung hat, die anderen sollen gefälligst für mich etwas machen. Zunächst sollte jeder für sich einstehen. Das ist in der traditionellen christlichen Soziallehre das sogenannte Subsidiaritätsprinzip. Jeder ist zunächst für sich selbst verantwortlich. Erst wenn er, aufgrund welcher Umstände auch immer, das nicht mehr schafft, treten die anderen für ihn solidarisch ein. Aber man darf nicht die Einstellung haben, dass die anderen das alles schon machen und man selbst nichts leisten muss. Die Selbstverantwortung ist für einen Bergsteiger elementar. Das lernt man am Berg.
Heute hat man das Gefühl, dass der Staat alle Gefahr, die dem Menschen begegnet, auf sich nehmen muss.
Seubold: Das ist eine gefährliche Illusion, das geht nicht. Aber wir versuchen immer wieder, alles abzufedern. Das ist falsch. Wenn ich etwas aus meiner eigenen Kraft leisten kann, stärkt das das Selbstbewusstsein. Jemand, der in den Bergen auf sich selbst gestellt ist und die Herausforderungen und Gefahren, die ihm begegnen, überwindet, bekommt ein stärkeres Selbstbewusstsein. Der traut sich für sich selbst mehr zu und kann dadurch auch anderen mehr geben.
Möchten Sie von Ihren Erfahrungen am Berg etwas weitergeben?
Seubold: Ja, natürlich. Deshalb habe ich ja dieses Buch geschrieben. Und ich biete auch „Philosophie in Bewegung“ an: Auf Wanderungen und Besteigungen im Mittelgebirge und in den Alpen erörtere ich mit einem Interessenten Fragen und Probleme seines Lebens, wir verbinden so das Sportlich-Leibliche mit dem Geistigen und Existenziellen. Das eröffnet ungeahnte neue Möglichkeiten und Einsichten.
Das Interview führte Richard Mayr.
Zur Person Günter Seubold, 1955 in Marktgraitz geboren, ist Philosoph. Von 2006 bis 2020 war er Professor für Philosophie und Kunsttheorie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter.