„Sie war eine beeindruckende Persönlichkeit, die trotz des unfassbaren Unrechts und Leids, das ihr und ihrer Familie widerfahren ist, die Güte hatte zu verzeihen. Ich bin sehr, sehr dankbar, dass ich sie im Rahmen des Projekts ,13 Führerscheine – dreizehn jüdische Schicksale‘ kennenlernen durfte und dass sie unserem Landkreis die Hand gereicht hat“, so Landrat Christian Meißner in einer Pressemitteilung anlässlich des Tods von Inge Stanton, geborene Marx. Sie ist in der Nacht zum Dienstag kurz nach ihrem 93. Geburtstag in den USA verstorben.
Inge Stanton stammt ursprünglich aus Lichtenfels und ist mit ihrer Familie in Folge der NS-Pogrome und der Verfolgung jüdischer Bürgerinnen und Bürger während des Dritten Reichs in die USA ausgewandert. Sie ist eine der letzten Zeitzeuginnen der Nazi-Diktatur in unserer Region.
1930 in Lichtenfels als Tochter von Ellen und Alfred Marx geboren
Sie wurde 1930 in Lichtenfels geboren. Ihre Eltern waren der jüdische Kaufmann Alfred Marx und dessen Frau Ellen, geborene Bamberger. Die Familie Marx betrieb ein Handelsgeschäft für Felle, Pelze und für Metzgerei-Bedarf in der sogenannten Guthmann-Villa in der Bamberger Straße 19.
Inge Stanton, die sich bis zuletzt ein glasklares moralisches Urteil bewahrt habe, berichtete von schönen Aspekten ihrer Kindheit wie auch von zunehmender Diskriminierung und Übergriffen durch Nazi-Behörden und Nazi-Anhänger. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 überfielen NS-Horden das Familien-Anwesen. Die Kinder mussten sich im Dachboden des Hauses unter dem Schutz einer nichtjüdischen Mieterfamilie vor den gewalttätigen, marodierenden Nazi-Anhängern verstecken. Inge als älteste mit ihren acht Jahren musste die anderen Kinder ruhig halten.
Bereits 1994 und 2016 mit Familie zu Besuch in Lichtenfels
Es gelang der Familie 1939 aus Deutschland zunächst nach Großbritannien und im April 1940 in die USA zu fliehen, wo sie sich unter großen Mühen eine neue Existenz aufbauen konnten. Bereits 1994 und 2016 hatte Inge mit ihrer Familie Lichtenfels besucht. Anlass für eine echte Heimkehr sei dann das Projekt „13 Führerscheine – dreizehn jüdische Schicksale“ des Meranier-Gymnasiums im Jahr 2018 gewesen, das in enger Zusammenarbeit mit dem Landratsamt Lichtenfels initiiert wurde.
Im Rahmen des Projekt-Seminars „13 Führerscheine – dreizehn jüdische Schicksale“ hatten sich die Abiturientinnen und Abiturienten des Jahrgangs 2018/19 mit Seminarleiter Studiendirektor Manfred Brösamle-Lambrecht auf Spurensuche nach den jüdischen Bürgerinnen und Bürger begeben (wir berichteten ausführlich), denen während des Dritten Reichs die Führerscheine abgenommen wurden, wird in der Mitteilung aus dem Landratsamt erinnert.
Unter den Dokumenten, die im Landratsamt Lichtgenfels gefunden worden seien, sei auch der Führerschein von Inges Vater Alfred Marx gewesen. Die Schülerinnen hätten die Familie in den USA ausfindig gemacht. Und Inge Stanton habe mit einer Fülle von Materialien und genauem Erinnerungsvermögen bereitwillig bei der Rekonstruktion der Familiengeschichte geholfen.
Zur Ausstellung „13 Führerscheine. Dreizehn jüdische Schicksale“ angereist
Im November 2018 kam sie, 88 Jahre alt, mit Familienmitgliedern zur Ausstellungseröffnung „13 Führerscheine. Dreizehn jüdische Schicksale“ und zur Verlegung von Stolpersteinen nach Lichtenfels. Sie habet dort eine beeindruckende Rede gehalten, „in der sie einerseits das Geschehene nicht relativierte und andererseits die Bereitschaft zu einem Miteinander angesichts eines gewandelten Deutschlands bekundete“, heißt es aus der Landkreis-Verwaltung. Und sie habe das auch praktiziert: Die Verbindung, ja Freundschaft mit vielen Seminarteilnehmern und -teilnehmerinnen sei bis zu ihrem Tode nicht abgerissen.
„Ich bin sehr glücklich und unendlich dankbar, dass Inge Stanton und ihre Familie zu uns gekommen sind und uns nach all dem, was der Familie Furchtbares widerfahren ist, die Hand der Versöhnung gereicht haben.“
„Es war für mich ein äußerst bewegender Moment, als ich ihr am 5. November 2018 den Führerschein zurückgeben durfte, der ihrem Vater im Dritten Reich abgenommen wurde“, so der Landrat. „Ich bin sehr glücklich und unendlich dankbar, dass Inge Stanton und ihre Familie zu uns gekommen sind und uns nach all dem, was der Familie Furchtbares widerfahren ist, die Hand der Versöhnung gereicht haben. Ihre Schilderungen und ihre Erinnerungen werden für uns immer gegenwärtig und eine Mahnung sein, dass so etwas bei uns nie wieder geschehen darf!“, betont Christian Meißner.
„In diesen schweren Stunden des Abschieds sind unsere Gedanken bei ihren Angehörigen, denen ich im Namen des Kreistags und der Bürgerinnen und Bürger des Landkreises Lichtenfels unsere tiefste Anteilnahme übermitteln darf.“
Rachel Schlesinger, Inges Enkelin, drehte einen Kurzfilm über Inges ersten Besuch in Lichtenfels, der unter vimeo.com abrufbar ist.
Hintergrund zum Projekt „13 Führerscheine – 13 jüdische Schicksale“ 2017 war im Landratsamt Lichtenfels im Rahmen der Digitalisierung der Verwaltung ein alter Umschlag gefunden worden. In ihm befanden sich Führerscheine, die man 1938 im Zuständigkeitsbereich des Bezirksamtes Lichtenfels 13 jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern abgenommen hatte - teils bei deren Emigration, teils im Zusammenhang mit den November-Pogromen. Landrat Christian Meißner regte an, dass Schülerinnen und Schüler anhand der Papiere ein Stück Lokalgeschichte aufarbeiten. Das Projektseminar zur Studienorientierung des Meranier-Gymnasiums Lichtenfels (MGL) begab sich 2018/2019 unter der Leitung von Studiendirektor Manfred BrösamIe-Lambrecht auf Spurensuche. Was die Abiturientinnen und Abiturienten in aufwändiger Recherche herausgefunden haben, geht unter die Haut. Die jungen Leute haben es geschafft, die Schicksale der einstigen Führerschein-Inhaberinnen und -Inhaber zu rekonstruieren. Sie haben den Namen jeweils ein Gesicht zurückgegeben. Fünf der Führerschein-lnhaber wurden ermordet, acht konnten noch rechtzeitig ins Ausland fliehen. Ihre Nachkommen haben die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in Nord- und Südamerika sowie in Israel gefunden. Eine dieser Nachkommen war Inge Stanton. Die einzelnen Schicksale der Führerschein-Inhaberinnen und -Inhaber dokumentiert die Ausstellung „13 Führerscheine - 13 jüdische Schicksale“. Sie war inzwischen national und international zu sehen – unter anderem im deutschen Generalkonsulat und im Museum of Jewish Heritage in New York –und wurde mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet. Inzwischen ist ein Dokumentarfilm über das Projekt entstanden. (red)