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LICHTENFELS: War „Striwa“-Gründer Conrad Wagner ein Profiteur des NS-Regimes?

LICHTENFELS

War „Striwa“-Gründer Conrad Wagner ein Profiteur des NS-Regimes?

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    Die Spruchkammerakte von Conrad Wagner.
    Die Spruchkammerakte von Conrad Wagner. Foto: Carolin Gißibl

    Es ist ein dicker Wälzer, der im Staatsarchiv in Coburg ruht. Dutzende Dokumente sammeln sich in der Akte, das Papier ist brüchig, die Ränder zum Teil zerfleddert. Es ist die Spruchkammerakte von Conrad Wagner, einem Fabrikanten aus Lichtenfels. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten in der amerikanischen Besatzungszone mehr als 3,6 Millionen Deutsche Rechenschaft über ihre Gesinnung während der NS-Zeit vor Spruchkammern ablegen. Wegen zahlreicher Amnestien und vielen Verzichten auf Klage wurden letztlich nur 950.000 Fälle verhandelt. Darunter die Causa Conrad Wagner.

    Der Fabrikant führte die Lederbekleidungsfirma „Striwa-Werke Striegel & Wagner“, die während der Herrschaft der Nationalsozialisten expandierte – auch nach Polen, wo jüdische Insassen eines Ghettos für das Unternehmen arbeiteten. Gegenüber vom Bahnhof in Lichtenfels, wo noch heute auf einem mehrstöckigen Betonbau in blauen Buchstaben „Striwa“ steht, wurde nach Wagners Tod 1959 eine Straße nach dem Unternehmer benannt. Das könnte sich ändern, sollte der Stadtrat von Lichtenfels einem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zustimmen, in dem die Umbenennung der Straße gefordert wird.

    Der Anklage zufolge war Conrad Wagner Mitglied der NSDAP, förderndes Mitglied der Allgemeinen SS, der NS-Fliegerkorps (NSFK), Rottenführer bei den Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK), er gehörte der Deutschen Arbeitsfront (DAF) an, dem Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA), der NS-Volkswohlfahrt (NSV) und dem Deutschen Roten Kreuz (DRK). Während des Zweiten Weltkrieges stellten die Arbeiter der „Striwa“ unter seiner Leitung und der seiner Frau Grete Uniformteile her.

    Braune Weste weiß gewaschen?

    Spruchkammern teilten bei ihren Urteilen in fünf Kategorien ein: I. Hauptschuldige, II. Belastete und Aktivisten, III. Minderbelastete, IV. Mitläufer, V. Entlastete. Dabei galt nicht die Unschuldsvermutung, sondern die Schuld musste durch Beweise entkräftet werden. Wesenhaft in dieser Zeit: Die Beschuldigten suchten nach Zeugen, die sie positiv darstellten. Der Begriff der „Persilscheine“ entstand – Entlastungsschreiben, die braune Westen weiß wuschen.

    Der Historiker Ulrich Herbert sagte einmal: Anstatt mit Hilfe der Spruchkammern Nationalsozialisten aus ihren Stellungen zu entfernen, wären die Nazis das Brandmal ihrer früheren Tätigkeiten losgeworden. „So wurden aus Tätern Mitläufer und aus Mitläufern Entlastete.“ Wie war es bei Conrad Wagner?

    Bei seinem Spruchkammerverfahren hatte Willy Hauffe, ein Sozialdemokrat, den Vorsitz. Später wird er in einem Brief schreiben: „Ich (habe) als öffentlicher Kläger in diesem Prozess wohl den schwersten Stand gehabt, während meiner ganzen Praxis.“

    Conrad Wagner begründete seine Mitgliedschaft bei der NSDAP folgendermaßen: „Als 1933 die Macht an den Nationalsozialismus gelangt war, war ich der Auffassung, dass die Beteiligung verantwortungsbewusster Wirtschaftskreise nur bremsend wirken konnte. Ich rechnete damit, daß sehr viele Leute meiner nicht extremen Anschauung nunmehr zur Partei kämen und auf deren Kurs Einfluß gewinnen würden. Insofern enthält die Anmeldung keine vorbehaltlose Bejahung oder Rechtswidrigkeiten. Verfassungsverstöße waren mir damals noch nicht bekannt.“

    In die Partei aufgenommen wurde Wagner erst 1938. Ihm zufolge hatte die Kreisleitung vermutet, dass er kein Nationalist und jüdischer Abstammung sei. Er sei deshalb während der NS-Zeit gedemütigt worden.

    Laut Historikern war es ab 1933 jedoch üblich, aufgrund des Ansturms an Aufnahmeanträgen keine neuen Mitglieder in die Partei aufzunehmen. Die NSDAP wollte verhindern, dass jemand aus Opportunismus zur Partei stieß. Dass Wagner erst 1938 in die Partei aufgenommen wurde, könnte also ein übliches Vorgehen gewesen sein.

    In die NSKK, die der rassenideologischen Doktrin der NSDAP folgte, wurden Personen mit Arier-Nachweis aufgenommen. Wagner war Mitglied und wurde zum Rottenführer. Er bezeichnete das als „Zeiterscheinung“: „Ich machte aus meiner Abneigung gegen den Betrieb keinen Hehl und blieb im steigenden Maße vom Dienst fern, bis ich ca. 1935 wegen Dienstverweigerung aus dem aktiven Verband entlassen wurde.“ Die monatlichen Beiträge von etwa drei Reichsmark zahlte er weiter. Zuwendungen derselben Höhe gingen an die SS, NSDAP und NSFK.

    Wagner gab an, ein „politisch passives Verhalten“ gehabt zu haben. Dass er kein Nazi gewesen sei, versuchte er auch damit zu begründen dass er „erst“ 1940 der Deutschen Arbeitsfront beigetreten war. Das „zeigt, wie ich ihr ablehnend gegenüberstand“. Einem Zeitungsbericht zufolge soll die „Striwa“ allerdings ein Gaudiplom für hervorragende Leistungen erhalten haben. Dies erhielt man durch eine Teilnahme am Leistungskampf mit deutschen Betrieben. Dem Verein „Deutschlandtum im Ausland“ sei er beigetreten „ohne, das Gefühl einer politischen Mitgliedschaft zu haben“. „Dass diese Organisation darüber hinaus politisch tätig war, habe ich erst nach dem Zusammenbruch gehört.“

    Schreiben des Ermittlers, zu finden in der  Spruchkammerakte Conrad Wagner
    Schreiben des Ermittlers, zu finden in der Spruchkammerakte Conrad Wagner

    Conrad Wagner bezahlte Kirchensteuer, was damals als Demonstration hätte ausgelegt werden können, da kirchliche Einrichtungen zu Verfolgten des Dritten Reichs zählten. Außerdem unterstützte er die Niederbronner Schwestern und die Schwestern im Krankenhaus Lichtenfels mit Zuwendungen. Nach eigenen Angaben hatte er geschäftliche Beziehungen zu Juden nicht abgebrochen.

    Den Erfolg seines Unternehmens begründete er mit der Motorisierung, die in den 1920er-Jahren fortgeschritten war. „Eine Fabrik, die Lederbekleidung herstellt, ist im Großen und Ganzen krisenfest“, sagte er. Der Bedarf sei so übermächtig gewesen, „daß sich Aufträge von selbst ergaben.“ In einem Schreiben an den Staatsanwalt spricht Hans Brumbach, Wirtschaftsprüfer der „Striwa“, von einem „sensationellen Aufstieg“ der Firma, die einer „besonders tüchtigen Geschäftsführung“ zu verdanken sei.

    Ghetto – eine „Hilfsaktion“?

    Bei der „Striwa“ in Lichtenfels arbeiteten auch Menschen aus Osteuropa, das Unternehmen hatte ein Zweigwerk im polnischen Brunnstadt (Ozorków) und Insassen eines Ghettos arbeiteten in der polnischen Stadt Zduńska Wola. Letzteres bezeichnete Wagner als „Hilfsaktion“: „Bei einem meiner 3 Besuche in Brunnstadt wurde ich gebeten, mich mit dafür einzusetzen, dass die jüdischen Bewohner von Zdunskavola im Ort verbleiben könnten. Das sei nur dadurch möglich, dass ihnen Arbeit gegeben würde; sie befürchteten sonst, in ein großstädtisches Ghetto überführt zu werden.“

    Eine Ukrainerin in Lichtenfels sagte über die Arbeitsbedingungen aus: „Ich arbeitete als Gehilfin der Putzfrau, genoss volles Vertrauen und durfte bei Tag und Nacht alle Räume betreten, einschließlich der Hofbaracke. (…) Während der ganzen Zeit meiner Arbeit auf der Fabrik ,Striwa‘ habe ich nie ein grobes Wort, weder von Herrn Wagner, noch von seiner Gattin gehört und bin auch nie bestraft worden.“ An Weihnachten habe es Geschenke, Kaffee und Kuchen gegeben. Aufenthalte im Krankenhaus seien gesichert gewesen, für Neugeborene wurde ihr zufolge „gut gesorgt“. Wagner habe Betten, Bettzeug und Windeln geschickt. „Als einmal eine ukrainische Arbeiterin starb, erschienen zur Beerdigung im Namen von Herrn Wagner und als Vertreter der Firma dessen Gattin und seine Sekretärin“, fügte sie an.

    Wagner habe sich für einen osteuropäischen Mechaniker eingesetzt, der ins Straflager sollte. Ein weiterer Arbeiter der „Striwa“ schrieb: „Da erbarmte sich Konrad Wagner und nahm mich, den 50% invaliden Arbeiter, mit vier kleinen Kindern, in seine Dienste.“ Ein anderer sagte: „Ich war politisch Verfolgter. Wagner stellte mich in seinem Betrieb ein. (…) Er erklärte mir, dass er nur bei der Partei sei, weil ihm nichts anderes übrig bleibt.“ Alles Persilscheine? Auch ein Entlastungsschreiben von Domkapitular Heinrich Rauh, dem damaligen Stadtpfarrer von Lichtenfels, findet sich in seiner Spruchkammerakte. Laut Bezirksheimatpfleger Günter Dippold war er bekannt dafür, viele solcher positiven Schreiben ausgestellt zu haben.

    Anruferin meldet sich

    Nach dem Zeitungsbericht über die „Striwa“, der am 26. Januar 2024 im Obermain-Tagblatt erschienen ist, meldete sich eine Anruferin, deren Tante während des Zweiten Weltkrieges in der „Striwa“ arbeitete. Sie hatte damals von „Mädchen“ aus Osteuropa erzählt. Jeden Samstag gegen 10 Uhr sollten sie Schutt zu einer Ablagestelle in der Bamberger Straße bringen. Die Tante gab vor, auch Schutt wegzubringen – unter einem Tuch versteckte sie Brote. Die Frauen konnte man sich offenbar für Dienste „ausleihen“. Ihre Tante soll angegeben haben, die „Mädchen“ fürs Wäschewaschen zu benötigen – und kochte mit ihrer Mutter warmes Essen für sie.

    Ein Schreiben des Betriebsrates der „Striwa”, das im Zuge der Ermittlungen verfasst wurde. Quelle: Staatsarchiv Coburg, Archivsignatur; StABa, Spruchkammer Lichtenfels W 5
    Ein Schreiben des Betriebsrates der „Striwa”, das im Zuge der Ermittlungen verfasst wurde. Quelle: Staatsarchiv Coburg, Archivsignatur; StABa, Spruchkammer Lichtenfels W 5 Foto: Staatsarchiv Coburg StABa, Spruchkammer Lichtenfels W 5

    Kurz vor dem Prozess wurde offenbar gemunkelt, dass Wagner die „Striwa“ nach dem Urteil nicht weiterführen werde. Die Belegschaft bittet in einem Brief, den „allgemein hochgeschätzten Chef als Betriebsführer“ zu erhalten. Er sei „seiner Gefolgschaft stets ein leuchtendes Vorbild an Arbeitsfreudigkeit und Tatkraft gewesen“ und habe „für diese, wie deren Familien, in geradezu väterlicher Weise“ gesorgt. Darunter stehen über 200 Namen, unterschrieben mit Schreibmaschine.

    Die Verhandlung von Conrad Wagner fand am 6. Dezember 1946 statt. Der öffentliche Kläger Willy Hauffe argumentierte, Wagner sei wirtschaftlicher Nutznießer des Regimes gewesen und begründete dies mit Auskünften des Finanzamtes. Die Verteidigung entkräftete den Vorwurf: Die Heereslieferungen seien nicht der Grund seines hohen Einkommens gewesen, sondern die Konjunktur an sich. In diesem Punkt soll es laut einem Zeitungsbericht zur Auseinandersetzung der Verteidigung und des öffentlichen Klägers gekommen sein. Schließlich folgte das Urteil: Conrad Wagner wird in die Gruppe der „Mitläufer“ eingereiht. Als Sühnemaßnahme muss er einmalig 2000 Reichsmark zahlen.

    „Neue Presse“ vom 14. Dezember 1945. Quelle: Staatsarchiv Coburg, Archivsignatur: StABa, Spruchkammer Lichtenfels W 5
    „Neue Presse“ vom 14. Dezember 1945. Quelle: Staatsarchiv Coburg, Archivsignatur: StABa, Spruchkammer Lichtenfels W 5 Foto: Staatsarchiv Coburg StABa, Spruchkammer Lichtenfels W 5

    Fünf Tage später, am 11. Dezember 1946, titelte die Neue Presse: „Da stimmt etwas nicht!“ Dem Zeitungsbericht zufolge hatte die Lichtenfelser Bevölkerung das Urteil mit „großer Empörung“ aufgenommen. Ein Lichtenfelser schrieb direkt an den Minister für Sonderaufgaben in München. „Kein Wunder über so ein Urteil, wenn Herr W. Tage und Wochen lang seine Beauftragten nach Entlastungszeugen herumschickte und er hat sie auch gefunden. Die Verhandlung bewies es. Seine Angestellten und Arbeiter logen das blaue vom Himmel herunter.“ Er unterstellte Wagner, sich von 1934 durch einen Beamten des Luftwaffenbeschaffungsamtes Millionenaufträge eingeheimst zu haben und diesem Mann eine „namenhafte Provision“ gezahlt zu haben. „Bitte Herr Minister greifen Sie hier ein, sonst geht noch die ganze Entnazifizierung zum Teufel.“

    In anderen Briefen, die in der Spruchkammerakte zu finden sind, heißt es wiederum: „Ein Mensch mit solch hoher sozialer Einstellung gegenüber seinen Mitmenschen, kann doch nie ein Anhänger des Dritten Reiches gewesen sein.“ Ein Arbeiter der „Striwa“ schrieb: „Über das milde Urteil können nur Neider und Schadenfrohe nicht zufriedengestellt sein.“ In einem weiteren Brief stand: „Wer die Urteile der Spruchkammer verfolgt, kann sich oft eines Kopfschüttelns nicht erwehren. (…) Zugegeben auch, dass eine objektive Gerechtigkeit wohl unter Menschen nicht existiert.“ Diesem Schreiber antwortete Willy Hauffe: „Nach dem Prozess Wagner kamen eine Menge Monita, die ich viel lieber vor dem Prozess gesehen hätte. Wenn das Publikum nicht zu bequem oder zu feige wäre, bekannte Anschuldigungen durch den öffentlichen Kläger mitzuteilen, so wäre mir in vielen Fällen auch sehr viel gedient. (...) Hoffentlich bringt (...) die Zukunft bessere Möglichkeiten zu kräftigem und gerechtem Durchgreifen.“

    Im Antrag zur Umbenennung der Conrad-Wagner-Straße werden zwei Namen als Alternativen genannt: Ernestine Reuter und Helene Sievers. Wer waren die Frauen? Mehr dazu in der Ausgabe des "Obermain-Tagblatts" am 8. April 2024.

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