Acht Stunden geschlafen. Durchgeschlafen! Richtig tief geschlafen! Ein Gefühl wie neugeboren.
„Ich möchte sie erst in einem Jahr wiedersehen“ – so ein freundlich lächelnder Arzt, der dir nach angstvoller Zeit einer schweren Erkrankung diesen befreienden Satz voller Hoffnung und Zukunft sagt! - Ein Gefühl wie neugeboren.
Die erfrischende Dusche nach angestrengter Gartenarbeit – Ein Gefühl wie neugeboren!
Eine scheinbar kleine oder große Zärtlichkeit, ein ehrliches „Ich liebe Dich“ nach einem Streit zwischen zwei Menschen – ein Gefühl wie neugeboren! „Papa, ich hab dich sooo lieb!“! - aus strahlenden Kinderaugen lacht dich Dein Kind an – ein Gefühl wie neugeboren!
Ein Radler nach der Radtour oder/und eine „Gemischte Platte“ – „Boaah wie neugeboren“ - und, und, und…..
Alles ganz unterschiedliche Augenblicke, Momentaufnahmen im Leben, die wir aber gemeinsam haben und teilen, dieses wunderbare: Ein Gefühl wie neugeboren! Aus eigener Erfahrung weißt du zwar nicht, wie das damals genau war, (ich jedenfalls glaube nicht, dass Geborenwerden ein sanftes und wohliges Gefühl „wie neugeboren“ ist!), aber alles fühlt sich so an, eben „wie neugeboren“, wenn alles neu, frisch, unbelastet, unverbraucht vor Dir liegt.
Die Schöpfung, die Natur draußen geben sich alle Mühe mit ihren üppigen Farben und Formen, mit ihren Gerüchen und Klängen, deine Sinne zu wecken und zu verwöhnen. Der Frühling ist wie eine Neugeburt von Welt und Leben.
Und auch das Kirchenjahr tut das Seine dazu: Ostern, Fest des Lichts nach dunkler Nacht, des Lichts neuen Lebens und Werdens für dich, für mich und die Welt. Der letzte Sonntag war der Weiße in der katholischen Kirche, bei den Evangelischen heißt er etwas kompliziert „Quasimodogeniti“, übersetzt „gleichsam wie neugeboren“.
Ja – ich weiß genau – das sei hier nicht verschwiegen oder übertüncht – dass sich Leben und Welt in diesen Zeiten so ganz anders anfühlen: Nicht wie neugeboren, sondern gewaltbesessen, ja fast todessehnsüchtig. Aber weil ich selbst tiefe Angst und Sorge in Herz und Seele trage, ist mir ein Wort ganz wichtig geworden, das mir Mut und Zuversicht in so unsicheren Zeiten gibt. Es ist geprägt von der Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) und lautet: „Natalität“, übersetzt „Geburtlichkeit“. Das heißt: Dein Leben hat immer einen neuen, einen geburtlichen Anfang. Dein Leben beginnt nicht nur einmal bei der Geburt, damals bei mir vor gut 67 Jahren.
Geburtlichkeit ist die Tatsache, die es Dir und mir möglich macht, Neues zu beginnen, jeden Tag, ja jede Stunde. Ich kann, darf, soll mein Leben weniger als ein Altern, Vergehen bis zum Tod wahrnehmen, sondern als Geschenk für ein stetiges Aufwachen, Aufstehen, Aufbrechen – wie eben neugeboren - bis zum großen Auferstehen am Ende meiner Zeit.
Ich merke: Ja, da waren viele Geburten mitten in meinem Leben, als Neues begann: Überraschendes. Gelungenes. Erarbeitetes. Geschenktes. Durchlittenes. Riskantes. Überstandenes. Begegnungen, Bewahrung. Neue Chancen. Durch Wagnisse Erkämpftes. Manchmal: Alles auf Anfang. Noch einmal neu beginnen. Dem Leben eine neue Perspektive geben: im Beruf, im Privaten, im Selbstverständnis. Neugeboren – so vieles!
Ich wache auf: Meiner Frau und meine Augen begegnen sich. Was für ein Glück! Luna, der Hund begrüsst uns wie alle Morgen. Ich weiß meine Kinder behütet und glücklich. Ich kann aufstehen, frühstücken, einen ganzen Tag leben und gestalten und wenn Gott will noch viele, viele weitere. Ein ganz normaler Tag und doch wie neugeboren.
Ein wunderbares Wort des Propheten Jesaja fällt mir ein: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“
Los! Auf! Flügel ausbreiten! Losfliegen! Leben und Welt neugeboren entdecken und genießen! Etwas für Liebe und Frieden tun, zuhause und draußen, für dich selbst, für andere, für die Welt. Flieg, du geburtlicher und neugeborener Mensch! Flieg!
Matthias Hagen,
evangelischer Pfarrer i.R.,
Bad Staffelstein