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Kriminalität: Spuren der Gewalt - Wie Rechtsmediziner Opfern helfen

Kriminalität

Spuren der Gewalt - Wie Rechtsmediziner Opfern helfen

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    Eine Anlaufstelle nach Gewalterfahrungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene - die Ambulanz des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Gießen.
    Eine Anlaufstelle nach Gewalterfahrungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene - die Ambulanz des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Gießen. Foto: Christian Lademann/dpa

    Blutergüsse, Knochenbrüche, Stichverletzungen und Würgemale - mit solchen und anderen Verletzungsbildern sind die Ärzte am Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Gießen in ihrem Berufsalltag häufig konfrontiert. Menschen mit Gewalterfahrungen finden hier eine Anlaufstelle, um die Spuren der Taten dokumentieren und sicher archivieren zu lassen - vertraulich und unabhängig von einer Strafanzeige bei der Polizei.

    Vor über elf Jahren war das sogenannte Forensische Konsil Gießen als Pilotversuch gestartet. Gemeint ist damit eine patientenbezogene Beratung eines Arztes oder Therapeuten durch einen anderen Facharzt. Das längst etablierte System soll Opfer ermutigen, sich möglichst rasch nach einer Tat Ärzten anzuvertrauen und untersuchen zu lassen - denn häufig ist die Spurendokumentation und -sicherung ein Wettlauf gegen die Zeit, wie der Facharzt für Rechtsmedizin und Institutsleiter Sven Hartwig beschreibt.

    Gewaltspuren sind vergänglich

    Das liegt zum einen daran, dass die Spuren der Taten am menschlichen Körper vergänglich sind - DNA-Spuren können abgewaschen oder verwischt werden, sich verändern oder ganz verschwinden und Verletzungen abheilen. Hinzu kommt die kurze Halbwertzeit der bei Gewalttaten eingesetzten Substanzen. Das berüchtigte GHB beispielsweise, mit dem manche Vergewaltigungsopfer außer Gefecht gesetzt werden, ist nur kurz im Blut der Betroffenen nachweisbar, ebenso wie Alkohol, das laut Hartwig mit Abstand am häufigsten eingesetzten K.o.-Mittel.

    In rund 350 Fällen wird das Gießener Institut für Rechtsmedizin pro Jahr zu Rate gezogen, das sind rund zehnmal so viele wie zum Start des Forensischen Konsils im Jahr 2014. Hinzu kommen rund 800 Obduktionen bei ungeklärten Todesfällen sowie toxikologische Untersuchungen, etwa im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen. Generell macht sich das Institut ein Bild von allen Arten von Verletzungen durch Gewalttaten, also etwa auch bei Beteiligten einer Schlägerei im Rahmen polizeilicher Ermittlungen.

    Die regionale Zuständigkeit umfasst fünf Landgerichtsbezirke - neben Gießen auch Marburg, Kassel, Limburg und Fulda mit den jeweils zugehörigen Amtsgerichtsbezirken. Für den Großraum Frankfurt und weiter südlich gelegene hessische Regionen ist das Forensische Konsil des Universitätsklinikums Frankfurt zuständig.

    Fallzahlen haben sich seit Gründung vervielfacht

    Mehr als die Hälfte der 350 Fälle pro Jahr beträfen Kinder und Jugendliche, sagt Hartwig. Manche von ihnen erlitten Schütteltraumata oder mussten Schläge, Tritte oder herbeigeführte Stürze erleben, andere erfuhren Gewalt durch Verbrennungen oder Verbrühungen oder wurden durch sexuelle Übergriffe verletzt. Bei den übrigen Fällen geht es überwiegend um häusliche und sexualisierte Gewalt, Opfer sind meist Frauen. Schock, Scham und Angst vor den Tätern, die meist aus dem nahen Umfeld stammen, hindern diese Betroffenen häufig daran, sich Ärzten anzuvertrauen.

    Er hofft, künftig mehr Partnerkliniken für das Forensische Konsil gewinnen zu können, damit Betroffene ein dichteres Netz kompetenter Anlaufstellen vorfinden. Denn je weiter die Anfahrt, desto höher die Hürden, solche Dienste in Anspruch zu nehmen, weiß der Rechtsmediziner. «Wir müssen daran arbeiten, bekannter zu werden.»

    Institut will Netzwerk mit Partnerkliniken stärken

    Hessenweit zwölf Kliniken und Praxen arbeiten bereits mit dem Gießener Institut zusammen. Für die Opfer ist die vertrauliche Spurensicherung kostenlos. Erst Anfang Juli hatte die hessische Landesregierung einen Vertrag vorgestellt, der sie als reguläre Kassenleistung vorsieht. Ob sich dadurch mehr Betroffene an Kliniken und Arztpraxen wenden, sei erst im kommenden Jahr zu beantworten, da dann eine erste Abrechnung erfolgen werde, hieß es vom hessischen Gesundheitsministerium dazu.

    Die Partnerkliniken und -praxen erhalten für die vertrauliche Spurensicherung nebst Schulungen auch spezielle Sets, die unter anderem Kameras, Winkellineale, Utensilien für Abstriche und Asservatenbeutel enthalten, etwa zur Sicherung von Kleidungsstücken. Zu den erhobenen Befunden können sich Klinik-Ärzte anschließend mit den Gießener Rechtsmedizinern beraten.

    Das System verschafft Opfern Zeit, sich später zu entscheiden, ob sie Anzeige erstatten - dann können sie auf die archivierten Spuren zurückgreifen. Dass es dazu kommt, sei aber «fast eine Rarität», sagt Hartwig. Über die Gründe lasse sich nur spekulieren: Von der Furcht, vom Peiniger erneut Gewalt zu erfahren, bis hin zur Versöhnung unter Partnern ist alles denkbar.

    Höhere Sensibilität bei Gewalt gegen Kinder

    Bei Verdachtsfällen von Kindesmissbrauch und -misshandlungen wird derweil nach den Worten Hartwigs mittlerweile genauer hingeschaut. Sowohl Pädagogen als auch Bürger und Behörden seien sensibilisierter und die Anfragen von Jugendämtern nähmen zu.

    Das schlägt sich auch in Daten des Statistischen Landesamtes nieder: Demnach stieg die Zahl der bei den Jugendämtern registrierten Kindeswohlgefährdungen in Hessen im vergangenen Jahr um sieben Prozent auf den Höchststand von 6.620 Fällen. In 48 Prozent davon stellten die Jugendämter psychische Misshandlungen und in 47 Prozent Vernachlässigung fest. Bei 32 Prozent der Fälle lagen körperliche Misshandlungen vor, in 5 Prozent Anzeichen sexueller Gewalt.

    Erste Hinweise für Gewalt an Kindern fallen laut Hartwig oft bei Kinderärzten auf. Diese konfrontieren in der Regel zunächst die Erziehungsberechtigten mit den Befunden. Reagieren diese nicht oder weisen Verdachtsmomente von sich, können die Ärzte die Jugendämter informieren, die sich dann an die Gießener Rechtsmediziner wenden können. Bei Bedarf werden Betroffene auch direkt in der Institutsambulanz körperlich untersucht. Den ganz jungen Opfern soll das Ankommen hier erleichtert und die Angst genommen werden. Kuscheltiere, ein Puppenhaus und Möbel in fröhlichen Farben sorgen für eine kinderfreundliche Atmosphäre in der Ambulanz.

    Rechtsmediziner mit viel Leid konfrontiert

    Bei ihrer für die Aufklärung von Straftaten essenziell wichtigen Arbeit begegnen Hartwig und seine Kolleginnen und Kollegen viel menschlichem Leid. Wie belastend ist das auf Dauer? «Wir gehen mit einer sehr professionell distanzierten Haltung an die Dinge heran», sagt Hartwig. Das helfe, die Taten nicht mit nach Hause zu nehmen. Leider erleben er und sein Team aber auch immer wieder Fälle, bei denen alle Bemühungen um den Opferschutz vergeblich sind - etwa wenn häusliche Gewalt so eskaliert, dass Personen, die zuvor noch Verletzungsspuren in dem Institut dokumentieren ließen, später als Todesopfer auf dem Sektionstisch der Rechtsmedizin landen. «Das kommt durchaus vor», sagt Hartwig.

    Für die vertrauliche Spurensicherung nach erlittenen Gewalttaten stellt das Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Gießen den Partnerkliniken auch spezielle Sets zur Verfügung.
    Für die vertrauliche Spurensicherung nach erlittenen Gewalttaten stellt das Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Gießen den Partnerkliniken auch spezielle Sets zur Verfügung. Foto: Christian Lademann/dpa
    In einem Untersuchungsraum der Ambulanz am Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Gießen können Opfer von Gewalttaten erlittene Verletzungen dokumentieren und Beweise sichern lassen.
    In einem Untersuchungsraum der Ambulanz am Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Gießen können Opfer von Gewalttaten erlittene Verletzungen dokumentieren und Beweise sichern lassen. Foto: Christian Lademann/dpa
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