So hatten die Wildfleckener die Möglichkeit, all ihre Fragen zu stellen, die ihnen auf den Nägeln brennen. Viele Antworten kamen von den Bewohnern von Betro selbst. Ott macht kein Hehl daraus, dass es viele offene Fragen gibt. Als in der Nacht zum 17. Juni dieses Jahres ein unbekleideter Mann in ein Wildfleckener Brautmodengeschäft eingebrochen war und knapp eine Woche später ein anderer Mann eine Bankfiliale im Ort überfallen hatte, „da war das alles doch ein bisschen viel auf einmal“, sagt Ott.
Turbulente Wochen
Es waren turbulente Wochen, in denen die Wildfleckener zum Teil aufgeregt auf die beiden spektakulären Vorfälle reagierten. Bürgermeister Alfred Schrenk hatte zu dieser Zeit in einem offenen Brief an die Bevölkerung zur Besonnenheit aufgerufen. Die Debatten um die Betreuung psychisch kranker Menschen in Wildflecken dauerten indes an.
„Betro Oberes Sinntal“ gibt es nun seit mehr als einem Jahr in der Fleischhauerstraße. Ott erläuterte, dass die Einrichtung kein Heim im klassischen Sinn ist, sondern eine Tagesstätte für Menschen mit psychischer Erkrankung. Die Betreuten leben selbstständig in gemieteten Wohnungen. Ott ist zunächst einmal nichts anderes als Vermieter und Vermittler dieser Unterkünfte.
Um den Menschen eine „Tagesstruktur“ zu geben, kommen sie zu festen Zeiten in die Tagesstätte und nehmen dort ganz verschiedene Angebote wahr. Die Wohnungen in der Fleischhauerstraße mit der Tagesstätte im Erdgeschoss sind nur das Zentrum von Betro. Einige Menschen, die hier betreut werden, wohnen in anderen Straßen und kommen nur tagsüber in die Fleischhauerstraße.
„Wir müssen davon wegkommen, dass Menschen mit psychischer Erkrankung monatelang weit weg von der Heimat auf einer klinischen Station verschwinden“, sagt Ott. Schon allein aus wirtschaftlichen Gründen müsse sich die Psychiatrie zu einer ambulanten Versorgung der Menschen wandeln: „Der Aufenthalt in einer Klinik ist immer die teuerste Lösung.“
„Wir versuchen die Integration“
Das langfristige Ziel von Betro sei es, die Menschen wieder in die Arbeitswelt zurückzuführen. Die Einrichtung soll die Bewohner Stück für Stück in die Normalität führen. „Wir versuchen die Integration im Ort“, sagt Ott. Um die Isolation zu vermeiden, sei eine Wohngemeinschaft mit zwei Menschen je Wohnung fast Standard.
Manche leben lieber alleine, auch das ist möglich und funktioniert. Die Tagesstätte ist keine Freizeitveranstaltung, sondern Pflicht. Die psychisch erkrankten Menschen kaufen die Dienstleistungen von Betro mit ihrem persönlichen Budget. Die öffentliche Hand prüft kontinuierlich, ob das Geld sinnvoll und zielführend ausgegeben wird.
Die Menschen wieder sozial, familiär und beruflich einzugliedern, werde nicht in allen Fällen hundertprozentig gelingen, so Ott: „Aber wir sind da schon sehr erfolgreich.“ Die allermeisten Menschen bei Betro leben eigenständig, gehen selbst Einkaufen, kochen und suchen Kontakte. Andere zögen sich lieber etwas zurück, „aber so unterschiedlich sind eben die Menschen“, sagt Ott.
Der Wernecker Ott ist in Wildflecken längst kein Unbekannter mehr. Als der Landgasthof Völker keine Chance mehr hatte, entstand in dem Gebäude das „Haus mit Sinn“, das Ott anfangs leitete. Es ist ebenfalls eine Einrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, unabhängig von Betro. In der Bevölkerung werden beide Einrichtungen oft als Einheit gesehen, was daran liegen dürfte, dass Ott erst in der einen tätig war, bevor er sich mit der anderen selbstständig machte.
Werbung um Verständnis
Dass es heuer gleich zwei Straftaten von Menschen mit psychischer Erkrankung gegeben hat, ist für Ott ein Grund, verstärkt um Verständnis zu werben. „Jeder hat doch Angst vor dem, was er nicht kennt.“ „Wir haben in Wildflecken schon immer einen Wandel gehabt und haben alle Menschen freundlich aufgenommen“, sagte eine Einheimische. „Und wer kann schon von sich sagen, dass er ein echter Wildfleckener ist. Die Bewohner kommen doch von überall her.“ Ott will auch künftig das Miteinander der psychisch Kranken mit dem Ort stärken. Die Vereine seien ihm dabei eine Stütze.
Nach mehr als 30 Jahren Arbeit mit psychisch Kranken ist der Job für Ott längst Lebensaufgabe geworden. „Er hat das Helfer-Virus“, sagt ein Kollege über ihn. Ott sieht sich aber nicht als selbstloser Samariter: „Wir müssen mit unserer Arbeit natürlich auch Geld verdienen.“ Und es sei im Sinne der Bevölkerung, wenn das Geld sinnvoll investiert wird. „Unsere Gesellschaft wird davon getragen, dass wir anderen Menschen helfen.“