Sie ist die letzte einer stolzen Hoteliersfamilie. Ursula Reinmann, geborene Füglein, ist in der bekannten Villa und dem wenige hundert Meter entfernten Hotel Füglein aufgewachsen. Seit fast 46 Jahren lebt sie in den USA. Bei einem Besuch in der alten Heimat kramte sie in ihren Erinnerungen.
Ursula Reinmann steht vor der Jugendstil-Villa, die einst ihr Zuhause war und jetzt das Deutsche Fahrradmuseum beherbergt: „Da steht gar nicht mehr Füglein dran“, sagt sie in breitem Deutsch. Ihr ist anzumerken, dass sie ihre Muttersprache in ihrer neuen Heimat, Waunakee im US-Bundesstaat Wisconsin, kaum benötigt und das Amerikanische abfärbt.
Der goldene Schriftzug „Villa Füglein“, den Reinmann meint, prangte zu Glanzzeiten über dem Haupteingang des Gebäudes. 1908 hatte ihr Großvater Josef Füglein das Haus als Pension errichten lassen. Das schon länger betriebene benachbarte Hotel mit seinen 70 Betten war angesichts des Ansturms von Gästen zu klein geworden.
1944 starb der Großvater, da war seine Enkelin ein Jahr alt. Ursula Reinmann lebte damals nicht in der Villa, sondern in einem Haus hinter dem Hotel. Erst als sie fünf Jahre alt war, zog die Familie in die Villa.
Die war nach 1945 von den Amerikanern als Lazarett genutzt worden. Die Zeit nach dem Krieg war schwer: „Ich erinnere mich, wie wir übers Land gefahren sind, nur um ein Stück Brot zu ergattern“, erinnert sich Ursula Reinmann.
Ihr Vater Carl durfte Hotel und Villa 1948 wieder übernehmen. Es begannen bessere Jahre. Die Villa Füglein lief in den 1950er und 1960er Jahren prächtig. Vor allem Holländer und Amerikaner kamen, neben Kurgästen aus dem Inland.
In einer Zeit, in der viele Deutsche auf Kühl- und Gefrierschränke noch verzichten mussten, gab es in der Villa von Hand gemachtes Speiseeis. Gekocht wurde mit Gas. Auch einen Aufzug soll es in den 1960er Jahren schon gegeben haben.
„Ich erinnere mich, dass wir ausschließlich Sommersaison mit vielen Gästen hatten. Die ging von April bis Oktober und die Gäste blieben meist vier bis sechs Wochen“, erzählt die letzte Füglein. Die Winter habe sie sehr genossen, weil die Familie da mehr Zeit für sie gehabt habe.
Doch in dem Maße, wie die Villa florierte, wurde das altertümliche Hotel zum Problemfall. Reinmann erinnert sich an Flüchtlinge aus der DDR, die dort untergebracht waren. Wohl gegen Ende der 1960er muss Vater Carl Füglein das Gebäude an eine Versicherung oder eine Gesellschaft vermietet haben.
Genau erinnert sie sich nicht mehr, war sie doch mit 14 oder 15 Jahren aufs Internat in Altengronau gekommen und später nach Werneck in die Haushaltsschule. Spätestens mit ihrer Auswanderung 1966 trennte sich die Lebenswege. Fakt ist: Das Hotel wurde bald an den Staat verkauft und für den Bau des Kurmittelhauses abgerissen.
Bis 1972 betrieben Carl Füglein und seine Frau Elisabeth die Villa noch als Kurpension. Dann setzten sie sich zur Ruhe und zogen mit Ursulas Bruder in einen neu gebauten Altersruhesitz hinterm heutigen „Haus Margarete“.
Ursula Reinmann lebte da schon einige Jahre in Nordamerika. Sie hatte nicht den Weg ins Gastgewerbe gewählt, stattdessen Krankenschwester in Würzburg gelernt. Ihr Praktikum absolvierte sie in Aschaffenburg, wo sie ihren späteren Mann, einen Amerikaner, kennenlernte. 1965 kam ihr erstes Kind. Ein Jahr zog die junge Familie in die Vereinigten Staaten.
Ursula Reinmann besuchte ihre Eltern bis 1992 alle drei Jahre, dann pro Jahr zwei Mal. Als ihr 1900 geborener Vater 100 Jahre alt wurde, zog sie wieder nach Bad Brückenau, um ihn zu pflegen. Nur für ein paar Wochen im Jahr kehrte sie in die USA zurück, weil es das Aufenthaltsrecht verlangte.
Carl Füglein verlebte seine letzten Tage im Haus Waldenfels, mitbetreut von seiner Tochter. Seit seinem Tod 2002 hält die Tochter wieder den alten Rhythmus – ein Besuch Bad Brückenaus im Frühjahr, einer im Herbst: „Seit 1992 bin ich 42 Mal hin- und hergeflogen.“
Übernachtet hat sie dabei erst im Wohnhaus der Eltern. Nachdem das verkauft worden war, im benachbarten „Haus Margarethe“. Dessen Betreiberin, Gundula Langeworth, war eine Freundin der Familie Füglein, hatte sich auch schon um Ursula Reinmanns Eltern gekümmert.
Am Donnerstag flog Reinmann, die nach dem Tod ihres ersten Mannes vor fünf Jahren, einen Brückenauer heiratete, in die USA zurück: „Ich habe Heimweh nach dort“, sagte sie vor der Abreise. Nach 46 Jahren habe sich in der alten Heimat alles verändert. Sie fühlt sich hier nicht mehr zu Hause. Am Anfang sei das anders gewesen. Nach der Auswanderung habe sie in den USA öfter ein „komisches Gefühl“ beschlichen.
An Weihnachten war ihre Mutter mit 96 Jahren gestorben. Aus diesem Anlass war Ursula Reinmann diesmal nach Deutschland gekommen. Gut möglich, dass es ihr letzter Besuch war. Denn ihr Bruder und die Schwester Edith sind schon länger tot, Ursula Reinmann hat hier keine Verwandten mehr.
Die Villa Füglein wurde nach dem Rückzug der Familie als Pension weiterbetrieben, stand dann einige Jahre leer. 2003 eröffnete dort das Fahrradmuseum.