In Deutschland ist Allerheiligen ein ruhiges Fest, an dem der Verstorbenen gedacht wird. In Ecuador, 10 000 Kilometer von Deutschland entfernt, wird Allerheiligen ganz anders gefeiert. Familie Sitter aus Oberleichtersbach lebt mittlerweile seit acht Jahren in Quito in Ecuador und erlebt dieses Fest dort ganz anders.
„Nun sind es schon acht Jahre: Am 30. Oktober 2006 – also kurz vor Allerheiligen – kam unsere Familie in Quito, Hauptstadt Ecuadors, an“, schreibt Sabine Mehling-Sitter. Sie und ihr Ehemann Alexander wollten für drei Jahre im Rahmen der Kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit in einem Bibelzentrum der Steyler Missionare tätig werden.
Ihre drei Kinder sollten derweil die Deutsche Schule Quito besuchen. Obwohl sie in Quito niemanden kannten, wurden sie schon erwartet und herzlich am Flughafen begrüßt.
Eine kleine Gruppe von zukünftigen Kollegen und anderen Entwicklungshelfern geleitete sie zu der Wohnung, in der sie wohnen sollten. Was sie nicht ahnten war, dass sie dort etwas ganz Typisches, etwas Traditionelles für diese Jahreszeit und für dieses Land erwartete.
Zunächst mal muss man klären, dass der 1. November, der in Deutschland als Allerheiligen bekannte Feiertag, in Ecuador und in ganz Lateinamerika keine besondere Bedeutung hat. „Der wichtige Tag in der Tradition ist der 2. November – unser sogenannter Allerseelen-Tag, der hier „Diá de los difuntos“ – Tag der Verstorbenen heißt“, so Mehling-Sitter.
Dass dieser Tag so wichtig ist, hängt auch mit den überlieferten Traditionen der indigenen Völker Lateinamerikas zusammen, die mit ihren Toten sehr verbunden waren und noch sind. Wie in vielen Kulturen wurden auch hier die bestehenden indigenen Bräuche mit denen der kolonialisierenden katholischen Spanier verbunden und im Laufe der Zeit angepasst und verändert.
So war und ist es noch in manchen abgelegenen Dörfern Brauch, dass die Trauergemeinde bei der Beerdigung auf dem Friedhof quasi mit dem Toten ein letztes Mahl miteinander einnahm: Da gab es dann gegrillte Meerschweinchen, Hühnersuppe, verschiedene Getreidesorten, Kräuter und Kartoffeln.
Man setzte sich auf dem Friedhof im Familienverbund auf große Decken, aß gemeinsam und teilte damit Speis und Trank mit dem Verstorbenen. „Auch heute noch erinnert man sich jedes Jahr besonders an diesem Tag an die Toten, besucht die Gräber, isst dort gemeinsam, ja oft feiert, tanzt und singt man sogar auf den Friedhöfen“, sagt Sabine Mehling-Sitter.
Bunte Rädchen und Fähnchen bewegen sich im Wind. Nur ein leichter Hauch von Trauer ist zu spüren. Natürlich tragen auch die warmen Temperaturen dazu bei, dass man einen ganzen Tag auf dem Friedhof verbringt und dort mit der Familie feiert.
„Unsere Zeit in Ecuador ist länger geworden als ursprünglich geplant.“
Sabine Mehling Sitter zu ihrem Aufenthalt
Mittlerweile haben in den größeren Gemeinden und Städten die Grabhäuser Einzug gehalten. „Was wir in Deutschland als Urnenhäuser kennen, sind hier quasi „Hochhäuser“ mit übereinander liegenden Särgen. Das ist platzsparender und kostengünstiger“, beschreibt es Sabine Mehling-Sitter.
Ein weiterer Brauch der indigenen Völker Ecuadors waren die Grabbeigaben für die Verstorbenen. So formten sie dafür aus Maismehl, Kürbis, Honig und Bienenwachs kleine Figuren, die spitz zuliefen – wie kleine Puppen (deshalb „Guaguas“ genannt – sprich wawas) – die Arme über dem Bauch verschränkt, in den Händen einen kleinen Blumenstrauß, ähnlich wie die zur letzten Ruhe gebetteten Verstorbenen.
„Auch heute noch werden „Guaguas de pan“ (Brotpüppchen) in den Tagen vor Allerseelen in den Küchen der Ecuadorianerinnen fleißig geknetet und gebacken, nun allerdings aus Weizenmehl, Butter und Eiern, gefüllt mit Marmelade, Milchcreme oder Käse, verziert mit buntem Zuckerguss.“
Mittlerweile sind die Guaguas und die dazu servierte „Colada Morada“, ein süßes, lilafarbenes, dickflüssiges Getränk aus vielen Früchten, Kräutern, Zimt, Maismehl und Rohrzucker, kommerzialisierte Bräuche, die schon ab Anfang Oktober in allen Bäckereien und Supermärkten zum Verkauf angeboten werden, berichtet die gebürtige Oberleichtersbacherin.
„Oktober und November und der Allerseelentag ohne Guaguas de pan und Colada Morada ist für einen Ecuadorianer unvorstellbar. Sind dies doch lieb gewordene Traditionen im Gedenken an die Verstorbenen, die unsichtbar aber weiterhin in ihrer Mitte leben. Ein Stückchen Ewigkeit eben.“
Bei der Ankunft der Familie Sitter in Quito erwarteten sie Tassen voller heißer Colada Morada und Guaguas de pan. Seltsam und ungewohnt für sie zunächst, aber bald erfuhren sie ihre Bedeutung. „Seitdem ist diese Tradition auch für uns vertraut geworden, ja sie ist unsere Tradition geworden, auch mit dem Gedanken an unsere Ankunft damals“, erzählt Mehling-Sitter.
„Unsere Zeit in Ecuador ist länger geworden als ursprünglich geplant. Seit 2009 arbeiten mein Mann und ich in der Weltkirchlichen Partnerschaft zwischen der Erzdiözese München und Freising und der Katholischen Kirche Ecuadors. Dabei geht es um die Betreuung von Hilfsprojekten, Begleitung der deutschen Weltwärts-Freiwilligen und den Aufbau von partnerschaftlichen Kontakten. Unsere beiden ‘großen‘ Kinder, die mittlerweile schon wieder in Deutschland leben, vermissen Ecuador und natürlich auch die süßen Guaguas sehr. Vielleicht findet sich ja ein Rezept, nach dem sie sich im kalten deutschen Herbst die kleinen Brotpüppchen selbst zubereiten können.“