Komödie, Tragikomödie, Comic-Strip, Bilderbogen, Experimentaltheater – egal, welche Bezeichnung man für das Theaterstück „Ein Mann kommt zur Welt“ der jungen Schauspieler um Dirk Hönerlage wählt, sie treffen alle zu. Kürzlich ging das Stücken der Theatergruppe Kompass des Brückenauer Gymnasiums im Lola-Montez-Saal im Staatsbad über die Bühne.
Experiment gelungen – das ist das Fazit nach den drei Aufführungen des vergangenen Wochenendes auf der passend intimen Bühne. Denn die diesjährige Aufführung war in vielerlei Hinsicht ein Experiment für die Theatergruppe Kompass der Zehnt, Elft- und Zwölftklässler mit ihren 19 Schauspielern und sechs Technikern.
Zunächst war die Hauptperson des Stücks, Bruno Stamm, wunderbar einfühlsam und facettenreich gespielt von Leopold Richter, in allen 26 Szenen durchgängig auf der Bühne präsent. Die über weiteren 50 Rollen des Stücks teilten sich die übrigen Darsteller, so dass sie in rasantem Wechsel in bis zu fünf Nebenrollen gefordert waren.
Auch die Inszenierung selbst war ungewöhnlich: ein Theaterstück ohne fallenden Vorhang – die wenigen Umbauten wurden im Halbdunkel vor Publikum bewältigt; eine Kulisse, die lediglich aus dem grauen Vorhang und einem großen Baum, einem Lebensbaum, bestand.
Aus großen grauen Holzkisten bestand das Bühnenbild. Sie waren das variable Symbol für jede Art von Gegenstand – von der Wiege bis zum Totenbett. So konnte jeder Zuschauer sein eigenes Kopftheater ablaufen lassen, eigene Vorstellungen – und damit eigene Lebenserfahrung – aufs Bühnenbild projizieren.
Nicht neu, sondern ein roter Faden aller Stücke der Theatergruppe Kompass, sind aktuelle Zeitbezüge in den Stücken, sowie der Spiegel, der dem Zuschauer permanent vorgehalten wird und ihn fast zwingt, nachdenklich nach Hause zu gehen. Auch dies ist dieses Jahr wieder ganz unaufdringlich, und damit umso nachhaltiger gelungen.
Wie in einem Comic-Strip wurden manche Szenen mit nur wenigen Sätzen angerissen. Die Zuschauer sollten den Faden dann im Kopf weiterspinnen. Wie im Zeitraffer wird so der Lebensweg eines innerlich zerrissenen Menschen von der Wiege bis zur Bahre erzählt.
Innere Stimmen erzählen ihm dabei von Anfang an sein Leben in der Vergangenheitsform, als sei es vorherbestimmt. Bruno kämpft dagegen an, für die seltenen Momente der Individualität und des Glücks.
Sein Charakter entwickelt sich aus einem wilden Pointen-Pingpong, der aber auch zarte und berührende Momente zulässt, bis zur Bittersüße des Todes am Schluss.
Ein Menschenleben wird in knapp zwei Stunden angerissen. Bruno wird geboren, sinniert über den Sinn, ein Ich zu sein, fällt vom Baum. Er bereist die Welt. Bruno will Tina küssen, Tina küsst lieber andere. Bruno wird Künstler. Er holzt Bäume ab, sieht das als Performance, kommt in den Knast.
Dort schreibt er ein Lied, Brunos Lied, das wird ein Hit. Bruno ist ein Star, Tina strippt für ihn. Bruno stürzt ab, schreibt neue Lieder, die keiner mehr hören will. Sein Ruhm ist vorbei. Er heiratet Suse, die er im Flugzeug kennengelernt hat.
Dann ein Bandscheibenvorfall, Bruno wird träge, Suse lässt sich scheiden, er kriegt Krebs, dann Alzheimer. Selbst auf dem Sterbebett ist er unsicher, „Ich hätte vielleicht . . .“, lautet sein letzter Halbsatz. So endet ein Leben in unserer schnellen Multioptionsgesellschaft.
Rasant wechseln die Szenen. Doch in jeder wird Bruno Stamm von seinen inneren Stimmen begleitet. Sie treiben ihn fast in den Wahnsinn – die Vernunft, die Triebhaftigkeit, die Tradition und die so genannte Anima, das Weibliche im Mann.
Maximilian Seidl, Max Puschner, Emma Ferkinghoff und Lena Bögelein stellen sie in fast schon angsteinflößender Art und Weise dar. Denn wer verspürt nicht in sich selbst des Öfteren widerstreitende Stimmen. Rasant treten in den einzelnen Lebensszenen die wechselnden Nebenrollen in Bruno Stamms Leben, allesamt treffend besetzt und mit Hingebung gespielt. Dabei wird von den Schauspielern enorme Wandlungsfähigkeit verlangt. Robert Nelkenstock etwa spielt zunächst den Vater Brunos, um später in einer anderen Rolle als dessen Sohn zur Welt zu kommen.
Merkmal eines jeden Theaterstücks unter Dirk Hönerlages Regie sind die kleinen Veränderungen im Drehbuch, die als Interpretationshinweise fungieren können. So ist das entscheidende Requisit Brunos ein Schal, ein Geschenk seiner Mutter, das er in den unterschiedlichsten Lebenssituationen bei sich trägt. Am Schluss löst sich dessen Wollfaden auf – in gewisser Hinsicht der Lebensfaden Brunos.
Symbolkraft hat auch der von Hönerlage scheinbar achtlos am Rand der Bühne platzierte Baum. Er trägt zur Geburt Brunos Bilder aus dessen zukünftigem Leben. Wie in einem Kalender fallen sie nach und nach vom Baum – hier werden sie symbolisch umgedreht. Mit dem letzten Bild erlischt das Leben.
Zum Schluss war somit die Komödie, die im Publikum viele Lacher produzierte, unmerklich zu einem Drama geworden, dem Lebensdrama Brunos.
Die sichtlich geschafften Akteure auf der Bühne wurden an den drei jeweils sehr gut besuchten Abenden mit tosendem Applaus belohnt. Das monatelange Textlernen, das Hineinversetzten in mehrere Rollen, es hatte sich gelohnt.
„In manchen Szenen konnte ich mich selbst spielen, vor allem in den Jugend- und Gesangsszenen, das fiel mir relativ leicht“, so Hauptdarsteller Leopold Richter, der trotz beginnenden Abiturstresses den größten Textumfang zu bewältigen hatte. „Das hilft mir aber jetzt beim Abi, denn ich musste mich unheimlich selbst organisieren“, zieht er Nutzen aus der Schauspielerei.
„Wir sind alle total geschafft und platt. Mit der Schlussprobe am Mittwochabend haben wir das Stück jetzt viermal hintereinander gespielt“, so ein erschöpfter, aber sichtbar glücklicher Dirk Hönerlage. Die Fans der Theatergruppe Kompass dürfen gespannt sein, was er mit seiner Truppe fürs kommende Jahr auf die Bühne bringen wird, sicher wieder Theater der Spitzenklasse mit aktuellen Bezügen.